Eine Rezension von Gisela Notz


Ich bin eine Fremde unter mir selbst

Jutta Heinrich: Unheimliche Reise

Roman.

Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998, 210 S.

 

„Niemand wird mir glauben“, so beginnt der spannende Roman, den ich von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug gelesen habe. Jutta Heinrich hat ein Buch geschrieben, in einer Sprache, wie man sie heute kaum mehr findet: anspruchsvoll, spannend, spritzige Dialoge, raumgreifende, gut zu lesende Wortbilder, dabei zum Sinnieren, Nachdenken Anlaß gebend. Das Buch ist kein Thriller, kein Western, keine Satire, keine Parodie - aber von allem ein bißchen. Und diese Mischung zusammen mit soziologischen Analysen und philosophischen Denkweisen macht es zu einem ganz besonderen Buch.

Es ist schon so, daß niemand glauben will, was die Ich-Erzählerin aufdeckt, nachdem sie sich eigentlich in einer süddeutschen Kleinstadt, in der sie auf der Suche nach Ruhe zufällig angekommen ist, zurückziehen wollte, um sich als Urlauberin zu empfinden. Das sollte ihr nicht gelingen. Schritt für Schritt tastet sie sich durch ein Gespinst aus Schweigen und Feindseligkeit, durch menschenleere Straßen. Sie trifft auf mürrische Taxifahrer, Kneipen-Männerrunden und seltsame Kreaturen. Immer wieder stößt sie gegen eine Wand von Lügen, flüchtet aber oft selbst vor der aufdämmernden Wahrheit, die nicht nur ihre zu sein scheint. Plötzlich ist sie dabei, ein „Vermesser der Ereignisse“ zu werden, sie ist bereits hineingezogen worden in das Geschehen und droht das Opfer ihrer eigenen Suche zu werden. Sie muß einfach den Virus der erkrankten Stadt ausfindig machen und dringt dabei in ein Wundmal ein, von dem sie, ehe sie sich’s versieht, infiziert wird.

Kein Wunder, daß sie selbst es ist, die immer wieder verdächtigt wird, wahnsinnig zu sein, weil sie versucht, hinter das Geheimnis aus dem Genlabor zu steigen. Dabei tritt sie nicht als aktive Heldin, als Enthüllerin in Erscheinung, sondern sie schlittert zufällig hinein, weil sie in ihrem Hotel erleben muß, wie eine schwangere Frau von zwei Männern mißhandelt wird. Beunruhigend wird die Geschichte vor allem deshalb, weil die örtliche Polizei sich weigert, eine Anzeige entgegenzunehmen, und statt dessen die Anzeigende als Querulantin verdächtigt. Die Beschreibung von Aggressivität, Haß und Mißtrauen gegenüber allem anderen und Fremden, wie sie sie in dieser spießigen Kleinstadt vorfindet, läßt vermuten, daß die Autorin so etwas selbst erlebt hat. Es scheint egal, wo sich die Kleinstadt befindet, schließlich ist alles austauschbar: die Häuser, die Straßen, der Brunnen, das Einkaufszentrum, die Biederkeit, die Verlassenheit und die Banalität der immer wieder gleichen Dinge. In der Falle sitzt jede, die sich aus der „miefigen Armseligkeit“ erheben will, die hinsieht, anstatt wegzusehen. Wenn sie sich nicht am Seil festhält, wird sie ertrinken, und wenn der Sattel nicht fest auf dem Pferd hält, wird sie abgeworfen werden. Sie wird morgens die Augen aufschlagen und sich fragen, ob sie an diesem Morgen kein Entsetzen übersehen hat, das bereits zu einem Teil ihres Lebens geworden ist. Sie wird sich vorkommen „wie eine Bergsteigerin, die sich vorgenommen hat, allein mit schwerem Gepäck den Gipfel barfuß und mit gefalteten Händen zu erreichen“. Und sie wird erfahren, wie schwer in manchen Situationen das Aufrechtgehen ist.

Lange bleibt der Leser im unklaren, was denn nun Mysteriöses in dieser Stadt passiert, ob es dieses schreckliche Geheimnis, auf das alles hinweist, überhaupt gibt oder ob es sich nur um surrealistische Traumbilder handelt. Wie im wirklichen Leben sind Wahn und Sinn oftmals nicht mehr auseinanderzuhalten. Es gelingt der Erzählerin nicht, den Ereignissen zu entweichen und einfach eine Touristin, eine Urlauberin zu sein - es gilt, den Auftrag zu erfüllen, den sie sich selbst gegeben hat. Es ist die Faszination am Risiko, aber auch die Angst, die sie weitertreibt. Eine Heldin ist sie nicht, und sie stilisiert sich auch nicht zu einer solchen. Schließlich wird sie selbst fast totgeprügelt und in einem mysteriösen Krankenhaus am Rande der Stadt zur Inhaftierten eines Luxusgefängnisses. Sie wird „immer abgeriegelter, immer entfernter“ gelagert, „die Krankenschwestern werden dreister und unfachlicher, die Böden glatter und schmieriger ...“ Verachtung mischt sich mit Hochachtung vor WissenschaftlerInnen, die einerseits scheinbar Unmögliches vollbringen, Baumeister und Wunschleiter eines gigantischen Entwicklungssprungs sind, andererseits für alles gemietet oder gekauft werden können. Hier ist die Ähnlichkeit mit der „sektenhaften Unterwürfigkeit“ der devoten Krankenschwestern nicht zu übersehen.

Ein in einem Blumentopf verstecktes Tonband bringt die Geheimnisse der Stadt schließlich an den Tag ...

Man kann darüber streiten, ob die Autorin das Geheimnis lieber am Rande der Stadt und unaufgedeckt hätte lassen sollen, weil die Enthüllung schließlich nur banal sein kann. Ohne die unzweifelhaft am Schluß des Buches mitklingende Gesellschaftskritik, die eine aus den Zügeln geraten Gentechnologie und die nach Profit gierende gewissenlose Gesellschaft geißelt, wäre Jutta Heinrich - nach allem Mysteriösen und Traumhaften der „Unheimlichen Reise“ - nicht glaubhaft. Schließlich ist ein Einsatz gegen das Ungeheuer, das „überall herauskriecht! Aus dem Leib, aus dem Hirn ...“, notwendiger denn je. Das Ungeheuerliche besteht ja darin, daß die sukzessive Selbstausbeutung des Menschen niemanden mehr richtig erschreckt. „Sie sind häßlich und wollen dumm bleiben, damit sie ihre Häßichkeit vergessen!“ Sie rufen nach Jesus, einem Himmel und Helfern und werden dabei immer gewalttätiger. Das Vieh, das verrecken muß, ist der andere. Wer sich, wie die Erzählerin, einen Funken von Mitgefühl leistet, wird selbst Wundmale davontragen. „Hauptsache ich nicht!“

Für Jutta Heinrich ist Schreiben „auch entblößen, bloß-stellen, um das Herausgestellte mit anderen Gedanken, anderen Handlungsweisen - vielleicht richtigeren - zu füllen“. Das schrieb sie bereits 1978 in dem Sammelband Frauen, die pfeifen. Heute, nach der „Unheimlichen Reise“, weiß sie, „der Mensch ist nur müde geworden, da, wo irgendwann mal Hoffnung war ..., ist Furcht geworden, Furcht vor sich selbst und eben auch vor dem Tier“. Früher redeten die Menschen noch miteinander.

Begeben Sie sich selbst auf die Unheimliche Reise, in das Herz der Finsternis, indem sie sich ein Lesevergnügen der besonderen Art gönnen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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