Eine Rezension von Gisela Reller


„Ich bin ein russischer Schriftsteller.“

Friedrich Gorenstein: Champagner mit Galle

Erzählungen.
Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke.

Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 240 S.

 

Friedrich Gorenstein, 1932 in Kiew geboren, verlor früh seine Eltern. Der Vater starb, nachdem er versucht hatte, aus einem stalinistischen Lager auszubrechen, die Mutter überlebte zwar den Holocaust, starb aber an den Entbehrungen der Nachkriegszeit. Gorenstein wuchs in einem Waisenhaus auf, arbeitete als Hilfsarbeiter und absolvierte später ein Studium am Institut für Bergbau in Dnepropetrowsk. Mit dreißig Jahren gelangte er an das Moskauer Filminstitut und schrieb Drehbücher. 1979 emigrierte Friedrich Gorenstein nach Westberlin, wo er seither lebt. Als russischer Jude? „Nein“, sagt Gorenstein, „ich bin ein russischer Schriftsteller. Meine Kultur ist russisch. Entscheidend ist immer die Sprache. Heinrich Heines Gedichte sind zu deutschen Volksliedern geworden, nicht zu jüdischen.“

Zahlreiche Romane (u. a. Die Sühne, Psalm, Der Platz) wurden ins Deutsche übersetzt. Mit Champagner und Galle liegt ein neuer Band mit älteren Erzählungen aus den sechziger und achtziger Jahren vor - ein Nachholeband sozusagen, aber einer, der sich zu lesen lohnt.

Die erste Erzählung, „Das Haus mit dem Türmchen“, schrieb Gorenstein 1963, sie wurde 1964 in der Moskauer Zeitschrift „Junost“ als erste (und bis 1990 einzige) literarische Arbeit in der Sowjetunion veröffentlicht. Die Handlung spielt im dritten Kriegsjahr. Der Junge - er ist für den Leser namenlos, heißt nur „der Junge“ - und seine Mutter fahren auf der Suche nach dem Großvater mit einem Güterzug. Unterwegs stirbt die Mutter an Typhus. Außerordentlich bewegend hat Gorenstein beschrieben, wie sich die fremden Menschen - alles spielt sich auch weiterhin in einem Zug ab - dem Jungen gegenüber verhalten: unmenschlich-rücksichtslos die einen, menschlich-mitleidig die anderen. „In dieser tragischen Zeit ist es aber auch schwer, ein Mensch zu sein ...“ Laß dich nicht unterkriegen, rät ein Fahrgast dem Jungen. Und da die Erzählung mit einem allerersten Lächeln des Jungen schließt, hofft der ergriffene Leser, daß sich der Junge im Leben tatsächlich behaupten wird ...

Der Band enthält noch eine frühe Erzählung Gorensteins, eine, die erst mit dieser Sammlung das Licht der Lesewelt erblickt, obwohl bereits 1966 geschrieben. „Das Gespräch“ findet nach einer Prügelei um ein Mädchen statt. Danach sprechen der kraftstrotzende Seemann und der schwächliche Intelligenzler „wie Brüder“ darüber, wie man leben soll, wenn es nicht nur für den heutigen Tag ist. Es wäre so schade nicht gewesen, wäre diese kleine Erzählung ungedruckt geblieben.

Um so eindrucksvoller die vier folgenden Geschichten, alle zwischen 1984 und 1987 schon in West-Berlin geschrieben. Alle spielen noch in der alten Heimat, alle beschreiben antisemitischen Druck und jüdisches Anpassungsverhalten.

Amüsant (aber nicht nur) die Erzählung „Iskra“, in der sich Lejkin, der Weißjude (was immer das ist), mit einem Drehbuch über Lenin abquält. Tragisch „Auf dem Bahnhof“, wo es in einer Kommunalwohnung im wahrsten Sinne des Wortes zu Mord und Totschlag kommt, und Sazepa, der singend mit jüdischem Jargon-Akzent spricht, erschlagen wird. Tragikomisch „Der kleine Obstgarten“, wo sich die jüdischen Kollegen Wenja Apfelbaum, Sascha Birnbaum und Rafa Kirschenbaum durch Russenhaß auszeichnen und Ausreisewünsche hegen. Trostlos die Titelerzählung, der ein Zitat aus der Apostelgeschichte vorangestellt ist: „Denn ich sehe, daß du bist voll bitterer Galle und verknüpft mit Ungerechtigkeit.“ Der Hauptheld ist hier der Theaterregisseur J., aus einem für Juden bestimmten Ansiedlungsbezirk stammend. Als er zur Erholung auf der Krim ist, freundet er sich mit einem Schuhmacher aus Litauen an, einem Juden wie er selbst. Doch bald durchschaut J. ihn und empfindet einen charakterlosen Juden ekelhafter als einen russischen Pogromstifter. Er muß sich erbrechen - Champagner mit Galle ...

Gorenstein, da sind sich die Literaturkritiker einig, befindet sich in literarischer Gesellschaft von Gogol, Dostojewski und Gontscharow. Leicht und glaubwürdig bringt er Absurdes, Gro teskes und Tragisches unter einen Hut. Fast immer verknüpft er Autobiographisches mit philosophisch-religiösen Betrachtungen.

In einem Interview nennt Gorenstein es eine Anmaßung, daß sich Solschenizyn als Stimme Rußlands empfindet, und schätzt nur einige wenige seiner ersten Erzählungen als gut ein; Lew Kopelew war nach Meinung Gorenstein einer, der sich größer machte, als er war; die weltberühmten Liedermacher Wyssozki und Okudshawa waren es seiner Meinung nach nicht wert, daß ihnen eine ganze Generation hinterhergelaufen ist ... Wie gut muß der Schriftsteller Friedrich Gorenstein sein, damit eine, die Solschenizyn mag, Lew Kopelew hoch schätzt und Wyssozki und Okudshawa durchaus hinterhergelaufen ist, seine Äußerungen wegsteckt?

Sehr gut muß er sein.

Er ist es.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite