Eine Rezension von Volker Strebel


Nacht, der eigenen Sterne müde

Milena Fucimanová: Schmerzstrauch

Aus dem Tschechischen von Reiner Kunze.

Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 1997, unpaginiert

 

Das „höchstmaß an genauigkeit der emotionalen werte“ beeindruckte Reiner Kunze vor Jahrzehnten an der Poesie Jan Skácels. Damals lebte Kunze in der DDR, und er suchte und fand den Weg nach Mähren, wo er neben Jan Skácel auch andere tschechische und mährische Schriftsteller kennenlernte. Diese mährischen Begegnungen beeindruckten den jungen Dichter Kunze nachhaltig. Er hatte bereits Lyrik in eigenen Bänden veröffentlicht, aber Mähren bedeutete eine entscheidende Zäsur für sein dichterisches Schaffen. In der Tschechoslowakei hatte Reiner Kunze nach eigener Aussage erst begriffen, was Poesie, poetisches Denken überhaupt bedeuten kann. Eine dichterische Wiedergeburt setzte bei Reiner Kunze ein - nicht nur im eigenen Schreiben, sondern auch in einer Vielzahl von Übertragungen tschechischer Dichter in die deutsche Sprache. Im Laufe der Jahre hat Reiner Kunze über dreißig tschechischen Dichtern zu einer deutschen Stimme verholfen. Viele veröffentlichte Übersetzungen sind jedoch mittlerweile leider in längst vergriffenen Ausgaben verschüttet.

Hinzu kam der äußere politische Druck des geteilten Europa, gewiß ein denkbar schlechter Nährboden für verhaltene Nachdenklichkeit.

Auch die Texte der 1944 geborenen Milena Fucimanová standen im Schatten dieser unguten politischen Konstellation. Ihr Erstling konnte nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968 nicht mehr erscheinen und mußte auf die Veröffentlichung gute zwanzig Jahre warten. Milena Fucimanová verzichtete auf eine Veröffentlichung im Samisdat bzw. im Ausland, da sie ihre drei Kinder nicht gefährden wollte. Sie unterrichtet am Brünner Bischöflichen Gymnasium und trat auch als Verfasserin linguistischer Lehrbücher sowie als versierte Übersetzerin aus dem Russischen hervor.

Dankenswerterweise hat sich Reiner Kunze dieser mährischen Dichterin angenommen und diese kleine Sammlung poetischer Prosa und Gedichte vorgelegt. Den eingangs zitierten Beleg zu Jan Skácel könnte man geradewegs auf die Texte Milena Fucimanovás beziehen.

Den Leser fesselt nicht allein die Ausdruckskraft der bildlichen Vergleiche - „Die kolossalen, nach einer altstimme tönenden bäuche der kühe und wie kaffeebohnen auf ihnen die fliegen“. Die Prosa Fucimanovás stößt einer Stimmgabel gleich an den Bildern an und setzt Schwingungen frei. Kein Motiv wird ausgespart. Neben dem Platz für die Liebe zum Leben findet sich der gähnende Abgrund - zusammengehaltene Spannung, die im Benennen ertragen wird. Blicke der Kindheit: „Ich werde geliebt, also kann mir nichts geschehen. Achtung, dreht mir den kopf zur seite - großvater sticht ein schwein ab. Großmutter schneidet dem hahn die kehle durch. Dann ertritt großvater versehentlich ein gänsekücken, und sie schafften es nicht, mir augen für vergißmeinnicht zu schicken. Ich sah.“ Der Dichterin setzen sich in einer feinnervigen Weise beobachtete Ereignisse nach innen fort.

„Was geht vor in mir?“ fragt Milena Fucimanová, als ihr der Sohn zum Geburtstag eine Komposition schenkt, und gibt damit zugleich ihre Anweisung zum Schreiben, zur Poesie preis: „Die erfolge der töchter erfüllen mich mit gelassener freude. Die erfolge des sohnes empfinde ich wie nägel. Aber diese komposition erinnert mich tatsächlich an feinen regen. In ihr regnet es etwas frühreifes.“

Immer wieder überraschend, fügen sich bei Fucimanovás Metaphern und Bildern entlegene, ja entgegenstehende Begriffe zu unerwarteten Kombinationen zusammen und eröffnen einen neuen Wahrnehmungsraum: „Beklommenheit fällt wie ein leuchter / die stufen zu mir herab (wenn ich allein bin)“.

Es ist eine zarte Wucht, die von den Texten Milena Fucimanovás ausgeht.

Nur auf den ersten, im wahrsten Sinne oberflächlichen Blick stellt Schmerzstrauch eine sper-rige Verbindung dar. Blühendes Leben in seiner komplexen Form und sein gleichzeitiges Begrenztsein, angemahnt im Schmerz. Wie sich darauf einen Reim machen? Im Gedicht „Trinkspruch“ erinnert man sich an Verse von Vladimír Holan, in denen es heißt, daß guter Wein wie die Kunst sich selbst genug ist: „Der wein: / ganz er selbst“. Schmerzstrauch als Zuversicht also, Wahrnehmung bewohnbar zu machen: „Wenig ist’s, was wir wissen / Doch beruht nicht das gesetz der poesie / eben darauf / daß wir durch sie / so verletzbar / hören?“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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