Eine Rezension von Waldtraut Lewin


Der Bringer des Glücks

Lydia Flem: Casanova oder Die Einübung ins Glück

Biographie.
Aus dem Französischen von Angelika Hildebrandt.

Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1998, 283 S.

 

Genau rechtzeitig nach dem Erscheinen der ungekürzten Memoiren des Giacomo Casanova bei Ullstein ist Lydia Flems in Frankreich schon vor drei Jahren veröffentlichter psychoanalytischer Biographie-Versuch über den großen Verführer auf dem deutschen Büchermarkt. Der Freud-Biographin Flem hat es der Chevalier de Seingalt angetan, und sie entdeckt in ihm und seinen Lebenserinnerungen völlig andere und überraschendere Züge, als ihm gemeinhin zugeschrieben werden. Galt der hochstaplerische Sohn italienischer Komödianten in moralinsauren Zeitaltern als der Inbegriff der Verderbtheit und Zügellosigkeit schlechthin, so haben sich auch Künstler, denen wir alles andere als bürgerliche Normen in Dingen Erotik unterstellen dürfen, wie Arthur Schnitzler oder Federico Fellini, bei ihren Casanova-Gestaltungen weitgehend an das Bild des skrupellosen, aufschneiderischen, gefühlskalten Egomanen gehalten. Bei ihnen macht Giacomo Casanova keine gute Figur. Ganz anders ist das bei Lydia Flem.

Das Buch, im Gegensatz zu den Original-Memoiren ganz im Präsens geschrieben, bedient sich einer überraschenden und originellen Dramaturgie. Flem greift aus dem Leben des Casanova eine Handvoll Episoden heraus, die für sie psychologische Schlüsselszenen darstellen, durchleuchtet diese Szenen bis in die Wortwahl hinein mit den Mitteln der Psychoanalyse, reiht vergleichbare Erlebnisse in unchronologischer Reihenfolge aneinander, verknotet isolierte Tableaus gleichsam zu einem Kranz von Geschichten. Diese Methode - viele Zitate, viel Interpretation - hat für die Schreiberin einen gewaltigen Vorteil: Sie kann auf diese Weise das herausgreifen, was ihr wichtig erscheint, anderes, vielleicht Unliebsames oder in ihr Casanova-Bild nicht Passendes, einfach weglassen. Lydia Flems Casanova ist ein ganz anderer als der zynische, leichtfertige Don-Juan-Verschnitt der Tradition: ein Glücksbringer, Freund der Frauen, einer, für den Lust immer geteilte Lust ist, einer, dessen Lebensphilosophie der reuelose Genuß ist, für den es ein Glück jenseits der Lust gibt, für den Sein und äußerer Schein identisch sind. Flems Casanova wird zum Inbegriff einer ganzen Epoche, er ist bei ihr quasi der Geist des Rokoko, der Komödiant, dessen Leben die Bühne ist, der Gestaltwechsler eines immerwährenden Karnevals.

Die Autorin hat, das ist ganz unverkennbar, das Buch aus einer großen Sympathie für ihren Helden geschrieben, so, wie sie ihn sieht. Und sie vermag zu überzeugen. Inwieweit ihr Casanova-Bild freilich authentisch ist, sei dahingestellt. Die Analytikerin verleiht manchmal Szenen, die ich als wirr, läppisch, belanglos ansehe, ungemeine Bedeutung, gewichtet harmlose Mitteilungen mit Tiefgründigkeit, deutet Eitelkeiten des Memoirenschreibers in charaktervolles Selbstbewußtsein um. Sie macht sich ihren Casanova, und gewiß sollten wir dies Bild zur Kenntnis nehmen. Aber wer die Lebenserinnerungen des historischen Windhunds selbst gelesen hat, wird nicht umhin können, sich auch an andere Züge des Helden zu erinnern: Seine Oberflächlichkeit, seine menschenverachtende Gleichgültigkeit gegenüber anderen, sein unbekümmertes Hinweggehen über fremde Gefühle, seine skrupellose Art, sich zu bereichern, das Hohle seiner Sicht der Gesellschaft, schließlich seine Bereitwilligkeit, der Stadt Venedig Spitzeldienste zu leisten - ein Fakt, den die Flem mit lächelnder Beiläufigkeit herunterspielt.

Lydia Flems Buch ist nicht die Casanova-Biographie, und ich weiß auch gar nicht, ob die unbedingt geschrieben werden muß. Aber es bleibt allemal eine klug gebaute Analyse, ein Blick auf eine Epoche, ein lesenswertes Buch.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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