Eine Rezension von Christel Berger


Ein einzelnes Leben als Brennspiegel der Epoche

Jens-Fietje Dwars: Abgrund des Widerspruchs

Das Leben des Johannes R. Becher.

Aufbau-Verlag, Berlin 1998, 861 S.

 

Wenn auch (fast?) alle „literarischen Repräsentanten der DDR“ nach 1990 erst einmal an „Ruf“ verloren, in den öffentlichen und vielen privaten Bücherregalen entweder ausgeräumt oder in die zweite Reihe gestellt wurden - einen hatte es ganz besonders getroffen: Johannes R. Becher, der Minister, Nationalhymnenverfasser, Stalin-Besänger, der zwar „große Dichter, aber kleine (feige) Mensch“. Kein Dank, kein guter Gedanke an den, dem die „Deutschland einig Vaterland“-Bewegung wenigstens das Motto verdankte!

Schon in den achtziger Jahren wußten die, die es interessierte, von seinen politischen Bauchschmerzen, die er noch ziemlich am Ende seines Lebens zwar niedergeschrieben hatte, dann jedoch aus Räson der „Selbstzensur“ opferte. Einer also, der sich (zeitlebens?) gekrümmt hatte, der - wie es zur Wende offenbar wurde - Walter Janka zwar nach Budapest zu Georg Lukacs schicken wollte, aber als es „heiß“ wurde, nicht zu dem Auftrag und schon gar nicht zu dem „Verschwörer Janka“ stand. Während sich für einige der ehemals verehrten und nun umstrittenen Schriftsteller - Anna Seghers, Bertolt Brecht, Friedrich Wolf u. a. - Freunde fanden, die literarische Gesellschaften eben zur Bewahrung und Auseinandersetzung mit ihren „Säulenheiligen“ gründeten, hörte man nichts mehr vom „Johannes R. Becher Arbeitskreis“, einem Gremium des Kulturbundes, das wohl die DDR-spezifische Form einer literarischen Gesellschaft war, die es jedoch nur für ganz Auserwählte gab.

Um so erstaunlicher die Leistung von Jens-Fietje Dwars, der jetzt im Aufbau-Verlag eine 800seitige Becher-Biographie vorstellt, frei von den ganz alten und auch neueren Klischees, polemisch zum „Zeitgeist“ und herrlich eigenständig. Kenntnisreich, was Becher, aber auch die Politik, Geschichte und Literatur dieses Jahrhunderts angeht. Materialreich und insofern weitaus mehr als nur eine Dichterbiographie, vielmehr ein Angebot zur Besichtigung der Zeit zwischen 1900 und 1958 (und darüber hinaus, denn mit dem Streit um die Jenaer Ehrenbürgerschaft reichen die Fakten und die Sicht bis in die 90er Jahre), das in vieler Hinsicht reizt.

In einer Nachbemerkung bekennt der Autor: „Nie hätte ich geglaubt, jemals ein Buch über Becher zu schreiben. Daß die Arbeit mich drei Jahre fesseln, ein so monströser Text entstehen würde, erscheint mir selbst nicht normal.“ Vielleicht ist es das, was den neuen Ton dieses Biographen ausmacht? Fast gegen seinen Willen, aber mit feinem Sinn für Gerechtigkeit, für Gründlichkeit, für die Tücken der Geschichte und das Eigene eines Menschen, aus Neugier und der Erfahrung einer durch die Wende abgebrochenen Universitätskarriere entsteht ein manchmal fast ausuferndes Plädoyer für einen, der immer instrumentalisiert und damit verbogen wurde. Der darunter litt und es dennoch zuließ. Dwars verteidigt Becher gegen alle bisherigen Einordnungen. Verteidigt ihn, ohne ihn - wie früher geschehen - von seinen Widersprüchen, Eigenheiten und Prägungen (der Begriff „Schwäche“ wäre unpassend) zu reinigen. Becher war der an seinem strengen Vater leidende Bürgersohn, der zeitlebens den Rückhalt und die Bestätigung in einer Gruppe suchte. Er suchte Gott und fand die Partei. Er war Extremen zugeneigt, er war Morphinist und ein braver Parteisoldat und ein begabter Dichter wilder, später auch melancholisch anrührender Bilder. Dwars beschreibt es natürlich viel detaillierter, aber er beschreibt auch, daß sich Becher trotz mancher dieser sein Leben bestimmenden Prägungen natürlich wandelte, und er stellt uns den späten Becher als einen durch seine Lebenserfahrung gereiften Mann vor, der durchaus eine vernünftige Konzeption von einer „Literaturgesellschaft“ (eigenartigerweise kommt dieser Bechersche Begriff bei Dwars nicht vor), von Kulturpolitik und Politik hat, die auf alten Volksfronterfahrungen beruht, die über weite Strecken sich durchaus abhebt von einem platten oder dogmatischen Führungsanspruch. Am Ende seines Lebens sieht er dieses Konzept gescheitert, und Becher wußte, wie weit er gehen konnte, um das eigene Leben nicht zu gefährden.

Aber Dwars begnügt sich nicht mit Becher, beziehungsweise sieht ihn nicht isoliert. Neben oder über Becher steht beispielsweise Nietzsche, dessen direkter und indirekter Einfluß auf diese Zeit und deren Intellektuelle reineweg leuchtet. Ein weiterer geistiger Verwandter ist Brecht - der andere, so gänzlich verschiedene Bürgersohn. Und der Vergleich mit Ernst Jünger macht deutlich, wie der damalige Zeitgeist so scheinbar Ungleiche verband. Dwars arbeitet Zeitströmungen auf, indem er Sentenzen, Motive und Strukturen vergleicht, und kommt zu bisher so nicht gesehenen Zusammenhängen.

Außerdem liest sich das Buch wunderbar! Der Autor ist Literaturwissenschaftler mit der seltenen Gabe einer eigenen, eindrucksvollen Sprache. Manche seiner Wendungen sind fast barock, und das Schönste ist seine Polemik. Manchmal glaubt man, ihn schnaufen zu hören, wenn er sich mit einer Auffassung auseinandersetzt, die er nicht teilt. Da kennt er keinen Respekt - ob Walter Benjamin oder Hans Mayer, Bertolt Brecht oder heutige Feuilletonisten: Wenn Dwars meint, ihnen widersprechen zu müssen, tut er es mit Glanz. Der Leser hat seinen Spaß!

Dabei ist es wirklich ein sehr ernsthaftes und wichtiges Buch und eine Fundgrube für Verschiedenstes (etwa: die Entschlüsselung eines geheimen Stalin-Porträts in Abschied, das etwa zeitgleich mit den berühmten Hymnen entstand). Außer dem Sinn für Literatur, für die Besonderheit der Sprache und des Könnens seines Protagonisten beweist der Autor immense Geschichtskenntnisse und Geschichtssicht, die auch für heutige Historiker interessant sein dürfte. Ob es die Rolle Lenins oder der Hitler-Stalin-Pakt, die Politik der SPD vor dem Ersten Weltkrieg oder die Strategie der Kommunistischen Internationale ist - Dwars geht auf die Quellen zurück, verläßt sich nicht auf Deutungen anderer und bewahrt den Blick für das Ganze als auch das Prozeßhafte, und plötzlich ist Geschichte etwas sehr Lebendiges, nicht Automatisches. So braucht der Leser auch nicht jeder Wertung zuzustimmen und darf dennoch von der Argumentation beeindruckt sein. Besonders wichtig ist für mich, daß Dwars stets Aktion und Reaktion im Blick behält und nie - beispielsweise bei Ereignissen des (kalten und heißen) Krieges - nur die eine Seite sieht.

„Ein einzelnes Leben als Brennspiegel der Epoche“ - diese Wendung fällt in einem anderen Bezug an einer Stelle des Buches. Sollte dies das geheime Konzept des Buches gewesen sein - der Autor hat sein Ziel mit Bravour erreicht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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