Eine Rezension von Sibille Tröml


„Wenig Hirn, aber viel Wade“ und viele andere (weniger) „gute“ Gedanken zur Schweiz

Andreas Dollfus/Paul Rothenhäusler (Hrsg.): Schweizer Splitter und Sprüche

Rothenhäusler Verlag, Stäfa 1998, 136 S.

 

Es könnte durchaus passieren, daß sich Buchhändler genötigt sehen, diesen kleinen Band mit Aussagen über die Schweiz gleich zweimal ins Schaufenster zu stellen, wollen sie sich nicht dem Verdacht einseitiger Parteinahme ausgesetzt sehen und so möglicherweise Kunden verärgern. Grund für dieses zugegebenermaßen ungewöhnliche und andere Bücher in der Präsentation quantitativ benachteiligende Vorgehen ist die Tatsache, daß sich die Herausgeber der Schweizer Splitter und Sprüche nicht mit einem Untertitel (und einer Einbandgestaltung) begnügen wollten, sondern auf zwei setzten: „Ein Grund zum Glauben an die Gerechtigkeit“ ist der eine, „Das widerwärtigste und erbärmlichste Volk“ der andere. Und so, wie der Inhalt des einen Zitates den des anderen auf den Kopf stellt, haben die beiden Herausgeber ihr Büchlein auch drucktechnisch (im hauseigenen Verlag) gestalten lassen: Hält man den Einband mit dem Pro Helvetia in der Hand, ist ein Umdrehen und ein Auf-den-Kopf-Stellen (oder auf die Füße) nötig, um jene mit dem Anti Helvetia lesen zu können bzw. umgekehrt. Doch gibt der Band damit nicht nur all jenen, die auf einer einseitig ausgerichteten Meinung beharren wollen, so etwas wie eine beruhigende „Ausrede“ dafür, sich dem „anderen“ Buch nicht widmen zu müssen, wenn sie „ihr“ Buch gelesen haben. Er erschwert auch allen anderen ein einfaches, „nahtloses“ Weiterblättern und Weiterlesen.

Anlaß, sich diesen beiden Seiten eidgenössischer Eigen- und Fremdbilder wieder einmal zuzuwenden, war weniger die Frankfurter Buchmesse 1998, auf der die Schweiz Länderschwerpunkt war. Weitaus wichtiger als dieses kurze (Medien-)Ereignis wiegt für die in den 20er Jahren geborenen Herausgeber die in den letzten Jahren immer lauter und heftiger geführte Debatte um das Verhalten der offiziellen Schweiz in den Jahren 1933 bis 1945, die - wie es im Vorwort von Paul Rothenhäusler heißt - „Diffamierung der sog. Aktivdienstgeneration der Schweiz im 2. Weltkrieg, wie sie mit mehr als 50jähriger Verspätung von einer amerikanisch-schweizerischen Allianz inszeniert wurde und wie sie im Sommer 98 immer noch anhält“. Flüchtlingspolitik, „Judenstempel“, „nachrichtenlose“ Guthaben und „Raubgold“ - sie führ(t)en nicht nur zu einem „Desillusionierungsprozess vor allem bei Älteren“ (Klara Obermüller), sie brachten und bringen das „kleine Land“ eben auch dorthin, wo es nicht gewohnt war und ist, sich zu finden, und wo es sich auch deshalb nicht gern sieht: in die (Negativ-)Schlagzeilen der internationalen Medien. Wohl auch aus diesem Grund ist der unter einem Zitat des Schweizer Schriftstellers Kurt Guggenheim vereinigte Pro-Helvetia-Teil quantitativ wesentlich umfangreicher ausgefallen als sein inhaltliches Gegenstück, stehen den 29 Seiten kritischer und zum Teil beleidigender An- und Bemerkungen 68 Seiten des Lobes und der Anerkennung gegenüber. In letzteren ist u. a. die Rede von der Schweiz als „Leuchtturm in der Wüste“ des Zweiten Weltkrieges, als „wahre(r) Helfer“, der „auf die Anklagebank (soll), weil er nicht genug geholfen hat, diejenigen hingegen, die jede Hilfe verweigert haben, fungieren als Ankläger“. Zitiert wird u. a. auch Ralf Dahrendorf, der 1997 äußerte: „Die Schweiz braucht keine und verdient keine Schulddiskussion nach deutschem oder österreichischem Muster.“ Neben solchen auf die aktuellen Auseinandersetzungen bezogenen Stimmen geht es in den „guten“ Zitaten aber beispielsweise auch darum, daß die Schweiz mehr Ausland habe als die größeren Länder, daß sie - Friedrich Dürrenmatt zufolge - „ein sehr freches Land“ sein sollte, „das die Auseinandersetzung, das Gespräch nicht fürchtet“ und daß sie - wie Karl Guggenheim meint - „der bisher am besten gelungene Versuch (ist), das menschliche Leben zu organisieren“. Wer zu alledem bisher noch nicht wußte, „dass das Wort Heimweh ein schweizerischer Beitrag zur deutschen Sprache ist“, der kann Hugo Loetschers dahingehenden Überlegungen in diesem Bändchen ebenso nachlesen wie den folgenden Auszug aus einer offiziellen französischen Broschüre zur Fußballweltmeisterschaft 1998: „Der Schweizer ist ruhigen Gemüts, pünktlich und gut organisiert. Aber er findet, auch wenn er am liebsten nach Frankreich fährt, alles zu teuer (merke: reich wird, wer sein Geld zusammenhält) und irgendwie auch zu schmutzig. Zwischen 18 und 19 Uhr isst er am liebsten Müesli, Kartoffeln und Käse, trinkt dazu bestenfalls Tomatensaft (zwischen den Mahlzeiten aber immer wieder ein Glas Weisswein) und zahlt dann alles getrennt, bevor er sich mit einem Händedruck und einem freundlich, aber distanzierten ,Aof Viderluéké‘ ins Bett verabschiedet.“

Zum Teil Unterhaltsames und (für Nicht-Schweizer) Amüsantes und zum Schmunzeln Einladendens findet sich aber auch in jenem Teil der Schweizer Splitter und Sprüche, den Paul Rothenhäusler eine „Sammlung von Schimpfreden und Verunglimpfungen der Schweiz“ nennt. Ohne Zweifel enthält dieser mit einem Adolf-Hitler-Zitat überschriebene Anti-Helvetia-Teil, der sich vor allem mit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg beschäftigt, vieles, was nicht wenige Eidgenossen erschrecken, verärgern oder beleidigen mag. (So etwa Knut Hamsuns Satz „Ein kleines Scheissvolk in den Alpen“.) Es stellt sich jedoch die Frage, ob von den Herausgebern nicht hier und da zu schnell und zu blind als Schmähung aufgefaßt wurde, was eigentlich nicht mehr ist als ein (auch selbst-)ironisches Augenzwinkern. „Die Schweiz ist der Traum des Kleinbürgers. Und des Grossbürgers. Und der Sozialisten. Und der Revolutionäre und Konservativen und Nihilisten. Die Schweiz, kurzum, ist der Inbegriff aller menschlichen Sehnsüchte. Wohin man blickt, herrscht Ruhe, Ordnung, Disziplin, Hygiene, Fleiss und Moral. Ist das nicht furchtbar?“ - Der das schreibt, ist kein Geringerer als Ephraim Kishon, der - wie der biographischen Notiz im anderen Teil des Buches zu entnehmen ist - noch dazu in Appenzell lebt! Und auch Friedrich Engels’ Worte scheinen alles andere als ernst gemeint, wenn er schreibt: „Es gibt zwei Gegenden, in denen sich die alte christlich-germanische Barbarei in ihrer ursprünglichen Gestalt, nahezu bis aufs Eichelfressen, erhalten hat. Norwegen und die Hochalpen, namentlich die Urschweiz. Die Schweizer beschäftigen sich in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keuschheit und Jodeln. Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohlgefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade.“ Wer auch in solchen Äußerungen „Diffarmierung, die auf Hass, Neid, Komplexen und intellektuellem Dünkel basiert“, zu erkennen glaubt, der scheint - zumindest aus der Sicht eines Nichtschweizers - nicht nur etwas zu weit über das Ziel nationaler Ehrenrettung hinauszuschießen. Er gibt auch, ohne es vielleicht zu beabsichtigen, jenem Max Frisch recht, der zwar auch im Pro-Helvetia-Kapitel zu Wort kommt, der Rothenhäusler aber vor allem als „ein grosser Hasser der Schweiz“ erscheint und der einmal notierte: „[...] man erschrickt oft über sich selbst, über die fast krankhafte Empfindung, wenn ein anderer nicht begeistert ist von uns. Irgendwie fehlt uns das natürliche Selbstvertrauen.“ Warum ausgerechnet diese Aussage nicht in das Unterkapitel „Konstruktive Kritik an der Schweiz“ integriert wurde, dafür aber jene vom Föhn, der „ein Teil des Schweizer Nationalbewusstseins“ sei, bleibt eine der Fragen, die sich die Herausgeber dieses unterhaltsamen, aber auch nachdenklich stimmenden Bändchens gefallen lassen müssen. Eine weitere wäre die, warum bei den biographischen Notizen wie auch bei der Datierung der Aussagen innerhalb der Kapitel so uneinheitlich vorgegangen wird.

Doch wie dem auch sei: Wer sich dafür interessiert, wie die Schweizer über sich selbst und wie andere über sie dachten und denken, und wer ein Liebhaber von aus dem Kontext gelösten Aussagen ist, der wird an dieser Sammlung, die 182 Autoren aus 18 Ländern und aus vor allem zwei Jahrhunderten vereinigt, seine Freude haben. Manch einer wird sich beim Lesen der beiden Vorworte und einiger Anmerkungen zu biographischen Notizen etwas zu sehr in seiner freien Meinungsbildung eingeschränkt sehen. (Etwa wenn er hinter einigen Namen den zudem noch mit Attributen versehenen Stempel „Schweizbeschimpfer“ vorfindet.) Manch anderer wird gerade diese „Orientierungshilfe“ (Andreas Dollfus) ebenso begrüßen wie den kurzen und nur rhetorisch fragenden Essay von Paul Rothenhäusler zum Thema „Hass auf die Schweiz - eine Tradition bei den Schweizer Schriftstellern?“ Ungeachtet solcher Differenzen aber ist festzuhalten: Eine Grundlage zum (eventuellen) Verständnis der einen oder anderen (alten wie neuen) Reaktion unserer südlichen Nachbarn liefern diese Schweizer Splitter und Sprüche allemal.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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