Eine Rezension von Hans-Rainer John


Alltägliche Geschichte - nicht alltäglich erzählt

May-Lee Chai: Ich trage die Hälfte des Himmels

Roman. Aus dem Amerikanischen von Gabriela Schönberger-Klar.

Droemer-Knaur, München 1998, 254 S.

 

Es gibt Bücher, die kann man mögen oder auch nicht, aber sie lassen keine Fragen offen, weder strukturell noch inhaltlich. Wie auch immer die Lösungen aussehen, denen sie zustreben, ob sie den Leser zufriedenstellen oder nicht - es stimmt in ihnen alles, die Details wie die Verallgemeinerungen, und wir haben grenzenloses Vertrauen zu den Autoren. Es gibt keine künstlichen Konstruktionen, es ist der Strom des Lebens, der sie durchpulst.

Das vorliegende Roman ist so ein Buch, unspektakulär, einfach und bescheiden, die Handlung alltäglich, keine lauten Töne und keine blutigen Aktionen - und ich mag es. Die Autorin erzählt in Ich-Form die Geschichte einer jungen, hübschen Lehrerin in China, die sich emanzipiert. Sie kommt mit einem Minimum an äußerer Handlung aus, aber mit welcher Größe wird das Problem ausgebreitet, welch innerer Reichtum wird da vermittelt und welche Fülle von Informationen über das Leben in einem geographisch ferneren Land wird da ausgebreitet - selbstverständlich, quasi nebenbei, ohne Dramatisierung, auch wenn es um die Kulturrevolution und ihre Folgen für den Einzelnen geht, und ohne den Anstrich von Sensationen.

Lin Jun hat nicht viel Geborgenheit verspürt in ihrem Leben. Sie entstammt einer Intellektuellen-Familie, die Opfer der Kulturrevolution wurde. Ihre Kindheit hat sie auf dem Lande bei einer Tante verlebt. Da die Eltern postum rehabilitiert wurden, konnte sie studieren. Sie war tüchtig, sie war schön, da war es nicht schwer, ihr einen Ehepartner zu vermitteln.

Shao Hong ist ein gutaussehender Journalist aus angesehener Familie. Am Anfang war da auch wirkliche Liebe. So wurde Bao-bao gezeugt, das von beiden geliebte Kind. Aber nach sechs Jahren wird die Ehe grauer Alltag. Nicht, daß Shao Hong fremdgeht, aber er wird nachlässig gegenüber seiner Frau, grob, mitunter fast brutal. Den Frust über seine unerquickliche Tätigkeit in der Redaktion der Zeitung, wo er, der am liebsten Bücher geschrieben hätte, nicht einmal mit der Abfassung von Artikeln betraut sondern als Übersetzer mißbraucht wird, läßt er an Lin Jun aus. Es ist ihm selbstverständlich, daß sie für seine Bequemlichkeit zu sorgen und keine Ansprüche zu stellen hat. Dabei geht sie selbst einer kräftezehrenden Tätigkeit nach ...

Lin Jun hat viel über diese Kleinbürgerhölle nachgedacht. Aber eine Ehescheidung ist in China nicht einfach. Sie erfordert viel Mut, Ausdauer und Durchsetzungsvermögen. Da muß man gute Gründe haben und sie viele Male verteidigen - vor der Familie, vor dem Parteisekretär, vor der durch Komitees repräsentierten Öffentlichkeit. Gleich am Anfang erlebt Lin Jun, wie sich ein Liebespaar in die Luft sprengt, weil eine Scheidung nicht genehmigt wurde. Kein Wunder, daß sie in eigener Sache lange zögert. Da kommt eine amerikanische Gastpädagogin an ihre Schule. Lin Jun wird beauftragt, sie zu betreuen. Eine Freundschaft bahnt sich an. Lin Jun lernt neue Aspekte kennen und wird in ihrem Drang nach Selbstbehauptung bestärkt.

Eines Tages fordert sie die Scheidung. Das ist ein Schlag, der Shao Hong völlig unerwartet trifft, ein Blitzstrahl aus heiterem Himmel. Die Liebe soll auf der Strecke geblieben sein? Die meisten Frauen leben so und ohne Widerspruch. Er bagatellisiert, schimpft, droht, aber als alles nichts nutzt, muß er den Tatsachen ins Auge sehen. Da bricht er, der sich wenigstens als Familienoberhaupt groß fühlte, zusammen, er wird klein und hilflos, er bettelt und weint. Seine Eltern schalten sich ein, plädieren zurückhaltend klug für Familiensinn, aber Lin Jun beharrt am Ende auf ihrem Entschluß. Ein Leben ohne Liebe und Achtung voreinander, mit dem sich so viele Frauen wie selbstverständlich abfinden, ist für sie nicht lebenswert. Lieber nimmt sie alle Folgen auf sich, mit einer Unbedingtheit wie Katharina in Ostrowskis Gewitter.

Wie dort geschieht es auch hier ohne Freiheitspathos, ohne kämpferische Allüre. Es ist nur ein stiller Protest. Verhalten, ungläubig fast, zögernd noch tritt sie ins Licht eines selbstbestimmten Lebens, das ihr einen alles andere als leichten Weg verspricht. Kurz zuvor erlebt sie eine Neujahrsnacht, in der sie einsam dasteht. Cynthia, ihre amerikanische Freundin, ist auf Heimaturlaub, Chen Hua, ihre chinesische Freundin, liegt in den Armen eines Lovers und Bao-bao, ihr Sohn, ist bei den Schwiegereltern. Da klopft am frühen Morgen der Ex-Mann an die Tür, bringt das Kind zurück, legt sich neben sie und schiebt sich - bittend, leidend, fast unbewußt und ohne Worte - zwischen ihre Schenkel. Wenn sie jetzt schwanger würde, mit einem Mädchen vielleicht, sollte sie die Ehe dann nicht doch fortführen, überlegt sie.

Eine alltägliche Geschichte? Die Autorin macht eine besondere daraus. Da spielt nicht nur die chinesische Umwelt eine Rolle, die unser Interesse fesselt und die Tiefe der Empfindungen, die die Hauptfigur bewegen. Es ist vor allem die Auswahl und Genauigkeit aller Vorgänge und die dialektische Betrachtung aller Handlungspartner. Niemals erliegt die Autorin dem schwarz-weiß oder gut-böse Raster, immer wird in den Menschen sowohl das eine als auch das andere aufgedeckt. Lin Jun ist nicht die starke Kämpferin für die Rechte der Frauen, sondern ein sensibles, oft auch zaghaftes, ungeschicktes Geschöpf, das zaudert, zurückschreckt, Auseinandersetzungen scheut, ständig Kompromisse erwägt. Cynthia, die Amerikanerin, ist nicht nur die verständnisvolle Freundin, sie überfordert Lin Jun auch, konfrontiert sie mit fertigen Tatsachen, die gut gemeint sind, aber an den Möglichkeiten Lin Juns vorbeigehen und ihren Widerstand provozieren. Auch bei den Schwiegereltern klaffen äußeres Erscheinungsbild und eigentliches Wesen auseinander, als es hart auf hart geht. Und sogar für Shao Hong wird Mitgefühl nicht verhindert, zumindest versteht man die Katastrophe, die es für ihn bedeutet, aus seiner männlichen Selbstsicherheit und scheinbaren Überlegenheit gestürzt zu werden und plötzlich einsam und mit leeren Händen dazustehen. Das China-Bild, das das Buch entwirft, ist düster, aber man spürt, Lin Hun hängt an diesem Land, sie fühlt sich trotz aller kritikwürdigen Erscheinungen als Patriotin, schämt sich vor der Amerikanerin für Armut, Mangel, Rückständigkeit und Reglementierung.

Der Titel des Buches ist von einem Mao-Wort abgeleitet („Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels“), das auf die Funktion der Frau im modernen China verweist. Die Autorin wurde als Tochter chinesischer Immigranten in den USA geboren, machte ihren Magister in Yale, arbeitet jetzt an der kalifornischen Universität in Berkeley. Sie leugnet ihre Wurzeln nicht und zeigt sich über das Leben im China von gestern und heute glänzend informiert. Sie ist eine schriftstellerische Naturbegabung von großer Sensibilität, die auf Anhieb überzeugt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite