Eine Rezension von Bertram G. Bock


Nachgelassene Geschichten

Harold Brodkey: Gast im Universum

Stories.
Deutsch von Angela Praesent.

Rowohlt Verlag, Reinbek 1998, 412 S.

 

Mehr wird es von Harold Brodkey wohl nicht mehr zu lesen geben. Erste Liebe und andere Sorgen (1968), ein Band, der die amerikanische Literatur aufmischte, Engel (dt. 1991) und Unschuld (dt. 1990) liegen seit Jahren schon vor. Mit dem Erscheinen des monumentalen Romans Die flüchtige Seele (dt. 1995) - dem Lebenswerk sozusagen, an dem Brodkey 40 Jahre geschrieben haben soll - kam auch die Nachricht der AIDS-Erkrankung Brodkeys nach Europa. Ein Jahr später folgte die Todesnachricht und ein letztes, sehr persönliches Buch: Die Geschichte meines Todes (dt. 1996). Und es ist wie ein kleines Geschenk, daß dieses Jahr von einem leider unbekannten Herausgeber nochmals zehn bis dato unveröffentlichte Stories erschienen sind. Undatiert, ohne jeglichen Kommentar mit Überschriften versehen, von denen man nicht genau weiß, von wem sie stammen, sind es nochmals gut 400 Seiten Brodkey, von denen man hofft, nochmals so verführt, so weggetragen zu werden, wie in allen Texten zuvor.

Es tut der literarischen Qualität keinen Abbruch, wenn diese zehn Stories nicht ganz die literarische Höhe erreichen wie die bereits veröffentlichten Texte, ist doch zu vermuten, daß es z. T. Fingerübungen sind, Stilproben, verworfene Versuche. Aber schon an den ersten Sätzen ist Brodkey zu erkennen, an den Stimmungen, den Themen, der Aufarbeitung. Schon die zweite Geschichte, „Was ich für Geld tue“, beschreibt die innere Auseinandersetzung eines Angestellten in einer flüssigen, intensiven Art und Weise. Und wenn der Erzähler von einer „biologischen Frömmigkeit“ spricht, so kann damit auch ein Teil des Schreibens Brodkeys bezeichnet werden. Denn immer wieder werden kleine Naturerlebnisse, (alltägliche) Wetter- oder Lichtempfindungen zu großartigen Schilderungen des Eingebundenseins des Individuums in die Natur wie auch zu überzeugenden Metaphern der Seelenzustände. Um einiges einfacher, gradliniger ist dagegen die kurze Erzählung „Religion“, eine Art Jugenderinnerung. Ein Gespräch unter rivalisierenden Freunden, Zuneigung und Ablehnung zugleich, körperliche Stärke gegen Intellekt und wie sich da verständigen? Ein Text, der eher die äußere Schale zeigt, weniger den inneren Kern. Das geschieht dann in den folgenden Geschichten, die nicht nur einen größeren Umfang haben, sondern auch mit einer stärkeren Gewichtigkeit daher kommen. „Erwachsen“ ist eine davon. Broadkey-typisch ist sie zu vielschichtig, um sie kurz skizzieren zu können. Es ist einerseits eine Erinnerung an die Kindheit, genauer an eine Zeit der Krankheit. Es ist aber auch die Erinnerung und Verarbeitung des Mutter-Kind-Verhältnisses. Sexualisiert und ritualisiert wohnt ihr ein Zauber inne, der immer auch eine Bedrohung sein kann. Nicht zuletzt ist der Text auch eine Art Positionsbestimmung des Ichs in der Welt. „Weitab vom Zeitkontinuum, daneben, in meinem Geist, in einer angrenzenden Falte, wenn ich so sagen darf, befindet sich ein Bassin, ein Hort verlorener Momente - einer, zwei, sieben Millionen davon. Und sie alle werden als Einheit empfunden, als der möglicherweise erträumte, über-reale Umstand, daß man etwas weiß ...“

„Autokauf“ knüpft in gewisser Weise an „Erwachen“ an, ist zudem mit dem Personal aus Die flüchtige Seele besetzt und daher wie eine Erinnerung. Doch diese Erinnerung schlägt dem Leser ein Schnippchen weil sie teilweise komisch und humorvoll ist, was für den amerikanischen Autoren nicht unbedingt typisch ist. Erzählt wird, wie Wiley mit seinem Stiefvater ein Auto für die Mutter kaufen geht. Doch - wie sollte es in dieser Familie anders sein - es ist das falsche. Es kommt zum lautstarken Familienstreit, bei dem die Fetzen fliegen. Es ist natürlich auch die Geschichte von Wiley und seiner Stiefschwester Nonie, einer Geschwisterbeziehung, die in erster Linie von Haß, Mißgunst und Neid geprägt ist. Auch die beiden Stories „Geschnatter in Little Rock“ und „Die Welt beherbergt Liebe und Tod“ sind im Kontext des Romans zu lesen. Hervorstechend sicherlich „Die Welt beherbergt Liebe und Tod“, wird hier doch mit hoher Prägnanz das (Stief-)Vater-Sohn-Verhältnis geschildert, und das ist zwischen S. L. (wie der Stiefvater meist genannt wird) und Wiley durchaus eigen. Denn Wiley, mitten in der Pubertät, hat sich der Avancen seines Stiefvaters zu erwehren, was durch dessen Krankheit noch erschwert wird. „Zu versuchen, auf einer Privatsphäre zu bestehen, ist hoffnungslos, wo ich so dünn bin und mein Pyjama überall auseinanderklafft und wo Dad krank und schamlos ist, nostalgisch schamlos, zwanzigmal mehr als ich.“ Aber Wiley ist es letztendlich nicht ganz unrecht, daß der Vater ihn bedrängt, auch wenn Wiley kaum Stellung dazu nehmen kann. Sein Verhalten ist ambivalent, das des Vaters neurotisch.

Die titelgebende Geschichte fällt dagegen etwas ab, die Protagonisten wollen sich über das Partygehabe der anderen heben, merken jedoch nicht, wie sehr sie doch den anderen gleichen. Auch hier nimmt Brodkey kein Blatt vor den Mund und schneidet auch das Thema Masturbation an, das ansonsten in der Literatur nur verschämt, wenn überhaupt, zur Sprache kommt.

Brodkey ist in jeder Zeile der Geschichten spürbar. Immer wieder, gerade in den längeren Texten, kann man sich an seiner Art zu erzählen begeistern. Für Brodkey-Liebhaber ohne Frage ein freiwilliges Muß-Buch, für alle anderen dagegen ein eher schwieriger Einstieg. Viele Geschichten faszinieren auch deshalb, weil man S. L., Nonie und die anderen schon kennt, weitere Details dieser Familie mitbekommt und sie in das schon Bekannte einbauen kann. Die literarische Überraschung ist das Buch nicht, das war auch nicht zu erwarten. Es ist eine Art Nachschlag. An diesen Geschichten wird man Brodkey nicht messen können und dürfen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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