Eine Rezension von Heinrich Buchholzer


Psychologische Studie - wie ein Krimi

Martin Amis: Night Train

Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1998, 173 S.

 

Dieser Roman, so teilt es der gestandene englische Autor mit, spielt in einer amerikanischen Stadt zweiten Ranges, dezent berühmt für ihren japanisch finanzierten Babel Tower, ihre Häfen und Marinas, ihre Uni, ihre futuristisch aufgeklärten Unternehmen (Software, Aerospace, Pharmazie), ihre hohe Arbeitslosigkeit und ihre verheerende Steuerflucht aus der Innenstadt. Wie man liest, ist Martin Amis in der Lage, mit einem Satz einen Steckbrief zu verfassen, der auf ein Dutzend große Städte der USA zutrifft und der Phantasie viel Raum gibt. Merkmal Nr. 1 des gesamten Buches ist damit genannt: Die Vorstellungskraft des Lesers wird unweigerlich angeregt. Der Autor skizziert, der Rezipient füllt die Skizze mit seinen Gedanken. Nicht die schlechteste Art von gehobener Unterhaltung. Im übrigen kommt Amis auf die Stadt nur noch in Nebensätzen zurück - er braucht sie nur als vage Kulisse. Sein Gegenstand sind wenige von einem Todesfall tangierte Menschen.

Merkmal Nr. 2 ist eine erträgliche, beinahe angenehme Schnoddrigkeit der Hauptperson und Ich-Erzählerin, der Polizistin Mike, um die 40, eher keine Schönheit, trockene Alkoholikerin mit starkem Leberschaden. Der Ton paßt zu der Frau, macht sie vorstellbar (siehe Merkmal Nr. 1). Da wir in eine amerikanische Stadt versetzt werden, ist die aus einschlägiger US-Kriminalliteratur bekannte Schnoddrigkeit angemessen. Cops reden so, dürfen oder müssen so reden. Ein englischer Polizist dürfte dies nicht, noch weniger eine Polizistin. Der Autor nutzt die Sprache seiner Antiheldin, um Person und Milieu vorstellbar zu machen. Die Phantasie des Lesers ... (siehe oben)

Merkmal Nr. 3 ist eine streckenweise gnadenlose Nüchternheit, mit der Anblicke und Vorgänge beschrieben werden. Wo dies geschieht, wird die Vorstellungskraft des Lesers zwar ebenfalls angeregt, aber er bekommt an den Glanzpunkten des Realismus keine Skizze, sondern ein schon weitgehend aufgefülltes Bild, dem auch Farbe beigegeben ist. Dennoch stellt sich die Versuchung ein, den geschilderten Vorgang mit eigenem inneren Auge zu erleben, ihn auszuweiten, ihm Farbe, Schwarzweißtöne, Bewegung hinzuzufügen. Man bedauert, wenn die Schilderung zu Ende ist. Ein Schriftsteller, dem dergleichen Verführung gelingt, ist ein guter Schriftsteller, zumindest.

Ein Beispiel. Auf drei, vier Seiten wird von einer Autopsie berichtet. Brutaler Realismus, ohne daß Ekel aufkommen muß, vielleicht auch deswegen, weil wir an den Gefühlen, Gedanken teilnehmen, die sich bei Detective Mike einstellen, die dergleichen schon oft gesehen hat und cool bleibt, aber nicht kalt. Hier (und nur hier) wird die Leistung des Schriftstellers durch eine Ungenauigkeit - des Übersetzers? - etwas gemindert. Der Gerichtsmediziner, lesen wir, „nimmt eine Vivisektion des Herzens, der Lunge, der Leber, der Nieren vor ...“ Falsch - er seziert die Organe einer Toten, während Vivisektion den Eingriff an einem Lebewesen, den Tierversuch, bedeutet, das Wort ist lateinischen Ursprungs (vivus=lebend, secare=schneiden). Man hofft, der Autor hat es gewußt.

Die Tote, die da seziert wird, ist eine bildschöne junge Frau gewesen, Freundin von Detective Mike, getötet durch drei Schüsse in den Mund, so das Autopsieresultat, während sie in ihrem Zimmer nackt auf einem Stuhl saß. Mike soll herausfinden, was da geschehen ist. Mord offenbar. Oder doch kein Mord, sondern Selbsttötung? Bei drei Schüssen unmöglich? Doch, auch mit drei Schüssen möglich, jedenfalls bei einer kleinkalibrigen Waffe. Schließlich aber spielt nur noch das Warum eine Rolle. Es wird für die Polizistin zur quälenden Frage, die beantwortet werden muß.

Ein Kriminalroman also? Ja, was wesentliche äußere Zutaten betrifft. Nein, was das Anliegen des Autors angeht. Er will offenbar hinter einem merkwürdigen Todesfall den vereinsamten Menschen auftauchen lassen, dem niemand mehr helfen konnte und der auch für sich allein stirbt. Zugleich zeigt er die fast verzweifelte Suche nach Sinn oder Sinnlosigkeit des Sterbens einer schönen jungen Frau, eines Todes, der hier überhaupt nicht hinpaßt und sich doch ereignet hat, sich auch in Wirklichkeit ereignen könnte.

Zum Vater der jungen Frau sagt Mike: „Die Menschen zeigen der Welt ein bestimmtes Leben. Dann schaut man hindurch und sieht, so ist das gar nicht.“ In diesem Punkt beschränkt der Autor sich wohl zu stark auf die Skizze, auf Andeutungen. Man könnte von ihm verlangen, er hätte den inneren Zustand der Selbstmörderin deutlicher machen sollen, den Zustand der Lebenden vor dem Tod. Er hat es nicht getan. Unsere Vorstellungskraft bleibt gefordert. Letztlich ist dies kein Kriminalroman, sondern eine psychologische Studie, die sich wie ein Krimi liest.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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