Eine Rezension von Michael Dingel


Abschied von einer Legende

Pjotr Aleschkowski: Der Erbe

Roman.
Aus dem Russischen von Alfred Frank.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 300 S.

 

Einen Abenteuerroman hält der Leser in den Händen, verkündet der Klappentext. Einen Abenteuerroman? Elemente eines solchen enthält Der Erbe zweifellos, doch mit dieser Klassifizierung wird man dem Buch nicht gerecht. Schon in Aleschkowskis erstem in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman, Der Iltis (rezensiert im Heft 2/1998), besteht der Junge Daniil außergewöhnliche Abenteuer in den tiefen russischen Wäldern. Ähnliches widerfährt dem „Erben“ Wladimir (Wolja) Tschigrinzew auf der Suche nach einem legendenumwobenen Schatz. In einer russischen Kritik heißt es: „Ein interessanter Roman mit Ideen, mit Abenteuern, Philosophie, mit beachtlichen Naturbildern und faszinierenden Figuren. Man sieht sofort, daß dieser Roman im modernen Sinne intelligent geschrieben ist.“

Der Historiker Pawel Sergejewitsch Derbetew machte seit dem Ende der sechziger Jahre Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts zu seinem Forschungsgegenstand und fand international Anerkennung. 1983 heiratete Derbetews amerikanischer Praktikant Larry Kors - aus einer russischen Emigrantenfamilie stammend - seine Tochter Olga. Derbetew bekam Schwierigkeiten in seinem Rektorat, blieb fest und verließ während der Perestroika die allgegenwärtige Partei. Mit dem veränderten Forschungsgegenstand wandelte sich auch sein Äußeres: „In dem strengen hageren Gesicht trat die Herkunft zum Vorschein, am kleinen Finger nahm ein ererbter tiefroter Goldring mit Karneol seinen Platz ein.“ Derbetew ist nämlich adliger Abstammung. Einer seiner Vorfahren, Fürst Sergej Derbetew, Oberleutnant des zaristischen Heeres, erschlug während des Pugatschow-Aufstandes einen flüchtenden Anhänger des selbsternannten Zaren und eroberte eine mit Edelsteinen von unermeßlichem Wert gefüllte Schatulle, die Pugatschow seiner Gemahlin senden wollte.

Bei der Feier zu seinem 78. Geburtstag schenkt der Gelehrte seinen Töchtern Olga und Tatjana den ihm verbliebenen Schmuck und erklärt, daß es ihm nicht mehr vergönnt sein würde, den, wie die Legende beschreibt, auf dem Familiensitz vergrabenen Schatz zu finden. Wolja Tschigrinzew, entfernt verwandt mit dem Jubilar, fordert er auf, den Schatz zu suchen, und löst damit die Ereignisse aus, die im Roman beschrieben werden.

„Wolja hatte wie alle in der Umgebung Pawel Sergejewitschs von klein auf unter dessen Schroffheit gelitten, war von ihm verspottet und auf Distanz gehalten worden, als grüner Junge, dem der Zutritt zum hochheiligen Kreis der Erwachsenen verwehrt war. Warmherzigkeit, Anteilnahme, Aufmerksamkeit - solche Gefühle zu zeigen war für den Fürsten gleichbedeutend mit dem Verlust seiner Würde.“ Nun zählt der 33jährige also offiziell zur großen Derbetew-Familie. Er ist Kinderbuchillustrator, „kann sich für die Schönheit und solide Machart eines Kunstgegenstandes begeistern, so, wie früher Hirten, von Kindesbeinen an vertraut mit den Pferden, sich selbstlos an den Prachttieren ihrer Herden erbaut haben mochten“.

Wolja kämpft mit sich, kann sich der Anziehungskraft der Legende, die um diesen Schatz gewoben ist, aber nicht entziehen. Viktor Aristow, der Sekretär des Professors und Partner Tatjanas, versucht vergeblich, ihn zur Vernunft zu bringen. Wenig später wird bei Derbetew Krebs diagnostiziert. Unheilbar. Tatjana will es nicht wahrhaben, versetzt ihren Schmuck, um mit den Devisen teure Medikamente besorgen zu können.

Nachdem Wolja von Aristow Dokumente über den Landsitz „Pylaicha“ erhalten hat, macht er sich auf den weiten Weg. Ein platzender Reifen schleudert seinen Wagen in den Straßengraben. Während er sich unverletzt aus dem Fahrzeug müht, muß sein Begleiter Nikolai zur Behandlung ins Krankenhaus. Bei seinen Erkundungen lernt er in der dünnbesiedelten weiten Landschaft interessante, zuweilen dunkle, geheimnisumwitterte Gestalten kennen, um die sich sagenhafte Gerüchte kleiden. Nikolais Mutter „glich mit ihrem einzigen Zahn der Hexe aus dem Märchen“. „Von einem Schatz weiß ich nichts, das ist ein böser Ort, wir sind, seit das Dorf zugrunde gerichtet worden ist, nur noch selten hingegangen, aber vor dem Vampir hüte dich, es gibt nur ein Mittel, das ihn abschreckt - eine Knoblauchzehe.“ Dieser „Vampir“ hat die Jahrhunderte im Gedächtnis der Bevölkerung überdauert. Der Fama nach ist der die Schmuckschatulle erbeutende wackere Dragoner von einem schrecklichen Werwolf umgebracht worden. Derartige Sagen hinterlassen Spuren in Woljas Gemüt, so daß unverhoffte, doch recht harmlose Begegnungen beinahe böse Folgen nach sich ziehen. Der Trinker Borja, ein herzensguter Mensch, seine liebe Frau Valentina und besonders ihr Sohn Wanja haben Wolja für sich eingenommen. Es stimmt traurig, wie der Suff das bedrückende Elend noch verschärft. „Das Haus von Borjas Mutter war halb in der Erde versunken. Als sie eintraten, schlug ihnen säuerlicher Geruch entgegen - der Geruch des einsamen Alters und von selbstgebrautem Fusel. Die Alte, großnasig wie ihr Sohn, verschrumpelt und ärmlich gekleidet, empfing sie mit fröhlich krächzender Stimme - die leibhaftige Hexe Baba-Jaga aus dem Märchen. Sie fuhr mit einem schmutzigen Löffel in einen gußeisernen Topf und lud Wabenhonig auf einen Teller, kochte Tee, fand sogar für Wanja einen nicht allzu vertrockneten Pfefferkuchen.“ Das schreiende Elend in den russischen Dörfern hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion noch verschärft. Aus Büchern sowjetischer Autoren wie Wassili Below oder Wladimir Tendrjakow konnte es der deutsche Leser erfahren.

Eine der geheimnisumwehten Gestalten ist der „Tschekist“. Beim Saufen erzählt er Wolja aus seinem Leben, trauert der Zeit nach, in der er im Fernen Osten beim NKWD gedient hat. „Für die Menschen hatte Iwan Iljitsch nichts als Verachtung übrig. Sein Leben lang war er stets und überall wegen seiner furchterregenden NKWD-Schulterstücke verachtet worden. Die dort Ansässigen: die Aleuten, die Eskimos ..., überhaupt diese ganzen Ureinwohner waren keine Menschen, Halbmenschen, die Männer nur zu Handlangerdiensten zu gebrauchen, die Weiber als ,schlitzäugige Matratzen‘ für die Nacht. Die politischen Strafgefangenen waren überhaupt Schweinehunde, Volksfeinde ... Stets hatte er alles zur Zufriedenheit seiner Chefs erledigt - Namengeschwirr bis hinauf zu den höchsten Chargen -, hier setzte er eine honigsüße Miene auf, bleckte seine schadhaften Zähne: diese Gewohnheit, sich bei jeder Gelegenheit lieb Kind zu machen, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.“ Sein Sohn Grischa verachtet den Vater. Er, der früher auf einem Sprengwagen geschuftet hatte, lebt heute von der Jagd. Vier, fünf Biber ergeben einen Pelzmantel, für den er anderthalb- bis zweitausend Dollar erhält.

Nach dem Tode Derbetews wandern auch Tatjana und Knjashnin, ein erfolgreicher Unternehmer, der ihr Herz erobert hat, in die USA aus. Wolja, der Tatjana liebt, überläßt sie nach dem Willen ihres Vaters das Haus in Bobry und den Derbetewschen Schatz. Doch den schlägt Wolja aus ...

Der studierte Archäologe Pjotr Aleschkowski lebt seit 1989 als freier Schriftsteller in Moskau. Auch Der Erbe zeugt von seinem großen Talent. Der Roman stand auf der Shortlist des russischen Booker-Preises für das beste Buch des Jahres 1996.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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