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„Wissen Sie, ganz ohne Idealismus kommt man schlecht durchs Leben“

Im Gespräch mit Wilhelm Boeger

 

Vorbemerkung

„Eine erstaunliche Anthologie, die einen enormen Überblick über die deutsche Literatur gestattet. Dennoch: kein weites Feld, sondern lehrreicher Lesestoff“, urteilt Günter Kunert über das im Cornelsen Verlag, Berlin, im Jahre 1995 erschienene dreibändige Werk „Von Abraham bis Zwerenz. Eine Anthologie als Beitrag zur geistig-kulturellen Einheit Deutschlands“.

Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie hatte, zusammen mit dem Land Rheinland-Pfalz, im Rahmen eines Weiterbildungsprojektes diese Anthologie mit über 300 Beiträgen von 104 Autoren - überwiegend aus Ostdeutschland - als Grundlage für den Dialog zwischen Ost und West über die gegenseitigen Befindlichkeiten und damit zur Sicherung des inneren Friedens initiiert.

Es wurden vor allem Texte aufgenommen, die Aufschluß geben über vergangene und insbesonders gegenwärtige Probleme, gesellschaftliche Zustände und den Alltag von damals und heute. Viele Arbeiten sind noch unveröffentlicht, einige sind Ausschnitte aus eben erschienenen Büchern. Manche Texte gehörten bereits in der DDR zu den gängigen Lesestoffen, andere - wie z. B. Texte von Waldemar Dege - durften in der DDR nicht gedruckt werden. Die Autoren haben die Texte selbst ausgewählt, so daß auch eine Art Selbstdarstellung zustande kam.

In der Mehrzahl kommen Schriftsteller aus den neuen Bundesländern zu Wort, bekannte wie Christa Wolf, Günter de Bruyn, Heiner Müller; weniger bekannte wie Waldemar Dege, Klaus Rohleder oder Barbara Köhler. Auch wenn Gerhard Zwerenz, Günter Kunert, Erich Loest u. a. schon seit Jahren im Westen wohnen, ihre Texte, Meinungen und Erfahrungen waren besonders gefragt. Den Autoren aus den neuen Ländern wurde auch deshalb der Vorzug gegeben, weil sie sich meist direkter mit den durch die Vereinigung entstandenen Problemen auseinandersetzen als die Autoren in den alten Ländern. Sie alle sind auf die eine oder andere Weise von den Veränderungen seit 1989 unmittelbar betroffen.

Wilhelm Boeger, damals Ministerialrat und Lehrerreferent der Bundesregierung, hat die Anthologie angeregt und die Bearbeitung übernommen. Nach seiner Pensionierung im Jahre 1995 übernahm er auf Wunsch des Bildungsministers in Bonn die Leitung eines Projektes, das die Arbeit mit den Texten der Anthologie in den Bundesländern auswertete und Angebote für den fachübergreifenden Unterricht in den Schulen entwickelte.

Als Herausgeber und überhaupt Vater der Anthologie haben Sie auch dafür gesorgt, daß die Anthologie Lehrern in West und Ost bekannt wird und daß diese gemeinsam beraten, wie welche Texte in der Schule behandelt werden können. Gab und gibt es neben den Seminaren und Konferenzen zur Einführung der Anthologie weitere Hilfestellungen?

Da die Anthologie inzwischen vergriffen ist und als reine Stoffsammlung hohe Anforderungen an die Arbeitskraft und Arbeitszeit der Lehrer stellt, eigene Unterrichtsangebote zu entwickeln, habe ich in Abstimmung mit den Autoren eine neue Reihe „Texte der Gegenwartsliteratur“ beim Schulbuchverlag Cornelsen herausgegeben. Innerhalb dieser Reihe sind Lesehefte erarbeitet worden, in denen Texte der Anthologie und ergänzende Texte nach Themen geordnet, von Pädagogen eingeführt und kommentiert gleichermaßen für den Schulunterricht wie auch für den interessierten, belesenen Laien angeboten werden. Dem Lehrer bieten die Hefte Modelle, die er ohne großen Aufwand für den Deutsch-, Geschichts- oder Politikunterricht nutzen kann.

Der „normale“ Leser wird in den Heften, die zu vernünftigen Preisen im Buchhandel zu erwerben sind, alten vertrauten Autorinnen und Autoren begegnen, oder - in Westdeutschland - neue Autoren kennenlernen und seinen geistigen Horizont erweitern.

Es sind bisher drei Lesehefte erschienen. Sie führen die Titel:

Reden und Essays aus den Jahren 1989 bis 1997, Orte und Landschaften - Lyrik und Prosa und Lebensläufe in Deutschland.

Lesenswert sind auch die Berichte über die Fachtagungen des Erprobungsprogramms, die in der Literaturzeitung „

Außerdem lohnen sich die weiteren Beiträge für Leser, die für eine vertiefende Lektüre aufgeschlossen sind.

Und diese Hefte sind im Unterschied zur Anthologie im Buchhandel erhältlich?

Es ist richtig, daß die Anthologie nicht in den Handel gelangt ist. Die Begründung liegt mit darin, daß die dort enthaltenen Texte speziell für die Lehrerbildung vorgesehen waren, wie auch die Finanzierung durch die Bundesregierung aus dem Haushaltstitel für Programme zur Lehrerbildung stammte. Auch sollte mit dieser staatlich subventionierten Publikation etwaigen privaten Initiativen der Verlage nicht vorgegriffen und deren Marktchancen nicht beeinträchtigt werden.

Die seinerzeitige Zusammensetzung der Bundesregierung schloß jede ernsthafte Möglichkeit aus, trotz großer Akzeptanz und Nachfrage im In- und Ausland eine Neuauflage auch nur zu erwägen.

Ich hoffe, daß unter der neuen Bundesregierung demnächst die Anthologie in größerer Zahl zur Verfügung gestellt werden kann. Wer nicht solange warten möchte, dem rate ich, die Lesehefte zu erwerben. Es wird niemanden gereuen, der gute zeitgenössische Literatur zu schät zen weiß, ob er nun in Westdeutschland oder in Ostdeutschland wohnt, das bleibt sich hier gleich.

Mittlerweile sind Sie - wie es heißt - „im Ruhestand“. Mir scheint das mit der Ruhe aber nicht so ernst gemeint zu sein: Einmal ging die Arbeit mit der Anthologie ja weiter, und dann liegt jetzt ein Buch vom Mitteldeutschen Verlag vor, dessen Autor Sie sind: „Der Leihbeamte“. (Rez. i. H. S.32) Wie kam es zu diesem Buch?

Nun, ich habe mir zunächst während meiner ganzen 40jährigen Dienstzeit Notizen gemacht über merkwürdige und bedenkenswerte Erlebnisse. Im Gegensatz zu manchen Kollegen habe ich nicht weggesehen, sondern aufmerksam hingeschaut, wo ich Anzeichen von ungewohnter Karrieresucht, Gleichgültigkeit, Korruption und Ämterpatronage bemerkt habe. Zu meinem persönlichen Interesse kam natürlich hinzu, daß ich den Diensteid ernst genommen habe, der von mir verlangt, Schaden von der Bundesrepublik im Rahmen meiner Kräfte abzuwehren und treu zur demokratischen Verfassung zu stehen. Das Vertrauen zu diesem Staat und seiner Verfassung wird aber untergraben, wenn Glücksritter, Abstauber und Karrierestreber die demokratischen Parteien dazu benutzen, ihren Schnitt zu machen und ihr privates Süppchen zu kochen.

Auf meinen Lesereisen durch ganz Deutschland bin ich immer wieder erschüttert über die Resignation und Mutlosigkeit in der Bevölkerung, der es an Glauben fehlt, daß die Selbstsucht und Geldgier in unserer Ellbogengesellschaft noch überwunden werden kann. Um so wich-tiger ist es, daß jeder, der es sich zutraut, am konkreten Beispiel Mißstände benennt und damit öffentlich macht. In den Diskussionen mit den Besuchern meiner Lesungen weise ich immer wieder darauf hin, daß die Verschmutzung der Umwelt allein durch den Mut und die Initiative einzelner Bürger in das öffentliche Bewußtsein gerückt ist. Das war die Grundlage, Maßnahmen zum Schutze der Umwelt zu ergreifen. Heute wird niemand mehr verlacht, der sich um die Erhaltung sauberer Luft, chemiefreier Nahrung und natürlicher Düngung einsetzt. Im Gegenteil, wir haben hier in Deutschland den besten Umweltschutz in der EG.

Warum kann man nicht mit derselben Kraft die Verschmutzung von Anstand, Moral und Gemeinsinn aufzeigen und gesellschaftlich ächten. Nicht unbedingt durch Gesetze. Aber eine Änderung des Bewußtseins, die täte schon not.

An eine Veröffentlichung meiner Notizen hatte ich zunächst nicht gedacht, habe aber gelegentlich am Rande von Tagungen und in Einzelbegegnungen aus dem Nähkästchen geplaudert. Den Gedanken, aus meinen Erlebnissen ein Buch zu machen, habe ich erst ernsthaft verfolgt, seitdem ich ein Jahr im Osten als Aufbauhelfer tätig war und auf Rügen und in Schwerin Unglaubliches erlebt habe. Zur Veröffentlichung ermutigt haben mich insbesondere Daniela Dahn, Christoph Hein und Fritz Rudolf Fries. Ich betrachte die Aufzeichnungen nicht als Literatur im engeren Sinn, in dieser Hinsicht habe ich keine Ansprüche. Was ich schreiben wollte und, wie ich meine, auch geschrieben habe, ist politisches Feuilleton. Die humorvolle, ironische Darstellung soll die ärgerlichen Inhalte besser vermitteln und dem Leser ein Lesevergnügen bereiten.

Fritz Rudolf Fries hat die von mir beabsichtigte Wirkung empfunden und sie in einem Brief an mich so beschrieben: „... noch immer bin ich ordentlich alkoholisiert von den Mischungen Ihres wunderbaren Humors... man wird (ja) als Leser immer zwischen Lachen und Weinen hin und her geschüttelt!“

Auch die anekdotische Einkleidung dient der besseren Lesbarkeit.

Gehörte nicht ziemlicher Mut dazu, aus dem „Nähkästchen“ zu plauern?

Sehen Sie, das werde ich in Lesungen oft gefragt. Besonders auf Lesereisen in Ostdeutschland. Ich antworte den Besuchern, daß sie durchaus keinen Autor vor sich haben, der ein Buch schrieb, „um das Gruseln zu lernen“, sondern den es schon vorher gegruselt hat und der auch erfahren genug ist, das Risiko einer derartigen Veröffentlichung abzuschätzen.

Andererseits bereitet es auch ein Gefühl der Genugtuung, wenn jemand, der wie viele andere auch, immer auf der Verliererseite stand, ein offenes Ohr, Aufmerksamkeit und Teilnahme bei den Bürgern findet, die ihn bestätigen. Außerdem vertraue ich darauf, in einem Staat zu leben, in dem sich kein aufrechter Bürger zu scheuen braucht, Mißstände zu benennen und sie anzuprangern.

Es gibt sogar Hörer in meinen Lesungen, die mich erstaunt fragen, warum ich denn nicht in meiner aktiven Dienstzeit ein Buch über Minister und Spitzenbeamte geschrieben hätte, unter freimütiger Nennung von Roß und Reiter. Dazu kann ich nur entgegnen, daß ich zwar Mut besitze, aber als Familienvater nicht so tollkühn bin, meine Existenz aus lauter Mitteilungsbedürfnis aufs Spiel zu setzen. Niemand kann von mir verlangen, wo fast alle schweigen, den Märtyrer abzugeben.

Angst machen dürfte das Buch eigentlich weniger dem Autor als den darin Abgebildeten. Merkwürdigerweise haben sich schon Leute gemeldet, die sich betroffen fühlten, aber gar nicht gemeint waren. Das ist eine gute Wirkung des Buches. Jeder, der Dreck am Stecken hat, soll aufmerken.

Sind Sie ein Idealist, daß Sie annehmen, mit Ihrer Beschreibung von Kungelei und Korruption und den Appellen ans Gewissen Besserung oder Einsicht zu bewirken?

Wissen Sie, ganz ohne Idealismus kommt man schlecht durchs Leben. Wer den nicht hat, den bedauere ich. Das hat auch etwas mit Utopien zu tun, die unseren Politiker ja ganz abhanden gekommen sind. Ich meine damit das Streben nach idealen Zielen, die zwar nie ganz erreicht werden, denen man aber immer wieder versucht näherzukommen.

Jeder Mensch, der über sich nachdenkt, macht sich einen Lebensentwurf, der sich nach Idealbildern ausrichtet, obwohl er ahnt, daß er meist schon auf halbem Wege enttäuscht werden wird. Ich kann mir kein Leben vorstellen, das zufrieden macht, wenn es nur auf konkrete materielle Ziele ausgeht.

Der Anspruch, den das Buch erhebt, ist doch recht bescheiden. Kungelei und Korruption einzudämmen oder gar abzuschaffen haben schon andere vergeblich versucht, und ich möchte mir nicht anmaßen, erfolgreicher zu sein. Mir geht es in erster Linie um etwas anderes, nämlich darum, den Gründen nachzuforschen, wie es in der Bundesrepublik dazu gekommen ist, daß statt der alten preußischen Tugenden wie Anstand, Ehrlichkeit, Rücksichtnahme und Selbstlosigkeit, Mitleid mit den Armen und Fürsorge für die Hilfsbedürftigen Eigenschaften getreten sind wie Egoismus, Raffsucht, Geldgier - Eigenschaften, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft erschweren und auf Dauer unmöglich machen.

Den erst schleichenden, jetzt schon galoppierenden Prozeß der Wandlung zu einer erbarmungslosen Ellbogengesellschaft an konkreten Beispielen zu belegen, das ist mein eigentliches Anliegen. Ich hoffe, daß Bücher wie Der Leihbeamte dazu beitragen, den Blick für Recht und Unrecht zu schärfen und den Rechtsbrecher, der den Staat um Millionen betrügt, zu verachten statt seine Cleverneß zu bewundern.

Fritz Rudolf Fries schrieb in seiner Besprechung, daß das Buch zum Lachen und Weinen sei. Ist Humor ein Lebensprinzip von Ihnen, selbst in tieftraurigen Situationen?

Ob das auf mich zutrifft, da bin ich nicht so sicher. Ich habe von der Natur einen gewissen Mutterwitz mitgekriegt. Mit dem kann man manches besser ertragen. Aber eigentlich ist mein Humor mehr von der Art, die der Volksmund Galgenhumor nennt. Beckett hat das mal genannt: „Lachen unter tiefstem Weh.“ Das trifft so in etwa auf mich zu. Das beschreibt schon meine berufliche Situation und mein Bestreben, mit Humor tieftraurige Erlebnisse zu bewältigen. Immer gelingt das allerdings nicht.

Mußten Sie nicht den Zorn der Getroffenen fürchten, eventuell auch über die Gerichte?

Die sich getroffen fühlen, die mögen ruhig zornig sein. Es ist ihnen natürlich nicht recht, in aller Öffentlichkeit vorgeführt zu werden. Aber bedenken Sie, nur ganz wenige Insider können sich denken, wer im Einzelfall gemeint ist ...

Ich habe ganz bewußt die Klarnamen aus dem Manuskript herausgestrichen und lasse den Leser zeitlich und örtlich meist im unklaren. Das hat gute Gründe:

Es ist nicht mein Anliegen, bestimmte Personen an den Pranger zu stellen. Ich bin weder Polizist noch Staatsanwalt. Ich bin auch kein Richter, sondern empfinde mich als ein Bürger unter Bürgern, der sich für diesen Staat mitverantwortlich fühlt. Würde ich die Namen nennen, würden sich andere die Hände reiben, froh, noch einmal davongekommen zu sein. So aber tritt eine allgemeine Verunsicherung bei Abstaubern und Beutemachern ein. Die ist von mir gewollt.

Natürlich gebe ich auch zu, daß die Anonymität der Täter etwaige Gerichtsverfahren, die gegen mich gerichtet sind, erschwert. In Schwerin sollen sich einzelne Personen zornig oder empört gemeldet haben, weil sie meinten, sich wiedererkannt zu haben. Das kann doch wohl nicht zu meinen Lasten gehen.

Und: Ob ich mich vor Gerichten fürchte?

Wie Sie wissen, bin ich selbst Jurist und habe auch als Richter gearbeitet. Ich kann Ihnen aus der Erfahrung sagen, vor Gerichten braucht kein Bürger sich zu ängstigen, der ein reines Gewissen hat.

Ich finde es überhaupt unerträglich, wenn jemand einen anderen mundtot machen möchte, indem er mit Anzeigen und Gerichten droht. Außerdem können Sie gewiß sein, daß der Leihbeamte hundert Seiten dicker wäre, wenn ich alles in meinen Aufzeichnungen ungeniert verwendet hätte. Das werden die Protagonisten in meinem Buch wissen, zumindest ahnen. Keiner von ihnen kann sich wünschen, daß dieses Material in einem Gerichtsverfahren vorgelegt und damit öffentlich wird.

Die Betroffenen wissen schließlich selbst genau, daß alles, was im Buch steht, der Wahrheit entspricht. Wie sollte es ihnen da gelingen, bei unabhängigen Gerichten aus Schwarz Weiß zu machen? Also, Frau Professor Berger, was die Gerichte anbelangt, da bin ich vorerst ganz ruhig.

Gestatten Sie eine kleine Randbemerkung: Bisweilen fragt mancher ungläubig: „Das wollen Sie alles selbst erlebt haben?“ In Ahrenshoop habe ich auf diese Frage einer Freundin von Elfriede Brüning geantwortet: „Christoph Hein hat hierzu einem Skeptiker zu bedenken gegeben: ,Bei dieser verblüffenden Detailgenauigkeit glaube ich nicht an eine Erfindung. Selbst ich habe nicht soviel Phantasie, um diese Vorgänge aufzuschreiben, ohne sie erlebt zu haben. Das hat den Skeptiker überzeugt.‘ Die Fragerin in Ahrenshoop übrigens auch.“

Wie war die Aufnahme des Buches bei der Literaturkritik?

Die Aufnahme des Buches bei der Literaturkritik ist erfreulich, weil trotz des Plaudertons und unterhaltsamer Anekdoten das eigentliche Anliegen des „Leihbeamten“ erkannt und gewürdigt wird.

Die Zeitung „Westfälische Nachrichten“ aus Münster resümiert z. B.: „Mit spitzem Bleistift spießt er (der Autor) Menschliches auf, reißt arroganten Politikernasen das Visier herunter, lädt den Leser ein, über Politik und Verwaltung nachzudenken, ein Stückchen Wahrheit hinter der deutschen Alltagspolitik zu entdecken. Ein höchst lehrreiches und gleichzeitig in seiner literarischen Form anspruchsvolles Buch über Deutschland und die Deutschen.“ Andere Zeitungen titeln: „Filz auf allen politischen Ebenen“ (Bonner Rundschau), „Geschichten von Glücksrittern und Abstaubern“ (Bonner Generalanzeiger), „Hauptsache Buschzulage“ (Berliner Morgenpost). In Westdeutschland halten sich vor allem die großen überörtlichen Zeitungen zurück. Nur in Bonn und Umgebung gibt es eine gründliche Berichterstattung, meist im Zusammenhang mit Lesungen, die gut besucht sind, besonders von Beamten, die wissen möchten, ob sie auch im Buch erwähnt sind. Sonst ist man schon reservierter. „Wundert dich das“, fragte unlängst ein Freund, Historiker an der Uni Düsseldorf, „Wer läßt sich schon gern den Spiegel vorhalten?“

Im Osten hat Der Leihbeamte auf zwei Bestseller-Listen eine respektable Plazierung erreicht. Einmal rangiert er sogar vor Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand.

Ich treffe Sie gerade anläßlich einer Lesereise. Wie reagieren die Leser?

Nun, ich erlebe auf den Lesungen eine breite Zustimmung. Die Hörer schmunzeln zunächst und nehmen mit Genugtuung auf, daß es in Bonn einen Beamten gibt, der dem Klischee nicht entspricht. Das ist für viele schon ein erfreuliches Ereignis. Und dann beobachte ich, besonders im Osten, das Gefühl einer besonderen Genugtuung, weil hier nicht ein gekränkter Ossi über Wildwuchs im Osten berichtet, den die Wessis ihm doch nicht glauben würden. Nein, hier liegt der Bericht eines langgedienten Westbeamten vor, der nach 40 Dienstjahren bedankt und geehrt in den Ruhestand entlassen ist. Wenn man dessen Notizen keinen Glauben schenken wollte, wem denn sonst sollte man trauen? Im Osten sieht man den „Leihbeamten“ als Sprachrohr an.

Wenn es in Schwerin Versuche gegeben haben soll, die Lesungen im kommunalen Schleswig-Holstein-Haus zu unterbinden, so sind hierfür Beamte aus dem Westen verantwortlich, die im „Leihbeamten“ vorkommen und die keine sonderlich gute Rolle gespielt haben. Vor der Lesung, am Eingang des Saales, ist mir ein höherer Beamter aus dem Westen in den Weg getreten und hat vorwurfsvoll gesagt: „Ihr Buch hat aber meinem Abteilungsleiter im Ministerium überhaupt nicht gefallen, Herr Boeger.“ Ich habe entgegnet, ich hätte das Buch auch nicht geschrieben, um diesen Herrn zu erfreuen. Er solle sich vielmehr besinnen und bereuen, daß er mich bei meiner Aufbauarbeit in Schwerin und Prora stark behindert und mir einen Stein nach dem anderen, manchmal ganze Felsbrocken, in den Weg gelegt habe.

Ich empfinde es schon als dreist und unerträglich, wenn Leute sich über meinen Bericht beklagen, die es mitverschulden, daß die Ruine in Prora heute den Steuerzahler 20-30 Millionen Deutsche Mark Erhaltungsaufwand kostet.

Die Lesung selbst verlief in Schwerin ruhig und sachlich wie an allen anderen Orten. So brauchte ich nicht für Personen- und Sachschäden aufzukommen, wozu ich mich vertraglich vor der Lesung in Schwerin bereit erklärt hatte.

Gibt es noch andere literarische Vorhaben?

Es gibt viele Themen, die meine Leser womöglich interessieren. Das sind zum einen die vielfachen Aktivitäten nach meiner Rückkehr aus dem Osten, die dazu beitragen sollten, die kulturelle Einheit zu fördern. Wie diese Versuche unterstützt und wie sie behindert worden sind, das sollte als Zeitzeugnis festgehalten werden. Und dann gibt es noch mitteilenswerte Erlebnisse, wie ein Wessi kurz nach der Wende bei ostdeutschen Schriftstellern vorspricht, ihr Vertrauen gewinnt und sie überzeugt, auf Kongressen und Fachtagungen die deutsche Einheit voranzubringen und in einer großen Anthologie den Grundstein für den Aufbau einer gemeinsamen kulturellen Landschaft in der Bundesrepublik zu legen.

Von all dem handelt mein neues Buches Der Leihbeamte kehrt zurück, das vom Mitteldeutschen Verlag noch rechtzeitig zur diesjährigen Leipziger Buchmesse auf den Markt gebracht werden soll. Wie bereits beim „Leihbeamten“ hat Klaus Ensikat eine schöne Umschlag-zeichnung beigesteuert, und es gibt eine Empfehlung von ... Aber lassen Sie sich mal überraschen.

Das Gespräch führte Christel Berger


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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