Eine Annotation von Gisela Reller


Ionow, Michail: Quo vadis, Rußland?

Aus dem Russischen von Karl Harms.

SPOTLESS-Verlag, Berlin 1997, 96 S.

 

Generalmajor a. D. Prof. Michail Ionow bereitet seinen Text nicht literarisch oder journalistisch auf, sondern er vermittelt brutale Fakten über das heutige Rußland: „Rußland verlor seine Stellung in der Welt, wurde an die Peripherie der Weltzivilisation gedrängt und steht vor der Gefahr des nationalen Untergangs. Zusammen mit der UdSSR hat es faktisch alles verloren, was es in den schweren Jahren des Krieges und den folgenden Aufbaujahren geschaffen hatte. Es verlor seinen Platz im Kreis der Sieger des Zweiten Weltkriegs und geriet in die Kategorie der Besiegten.“ Und: Ionow bringt Zahlen, immer wieder Zahlen, eine gravierender, erschütternder, unglaublicher als die andere. Um nur ein Zahlenbeispiel zu nennen: Nach neuesten soziologischen Untersuchungen sind von 73,3 Millionen Menschen, die den ökonomisch aktiven Teil der Bevölkerung stellen, 19 Millionen in Bereichen tätig, die zu Sowjetzeiten kaum erwähnenswert waren oder die es gar nicht gab: 2,5 Millionen betätigen sich als „Handelsreisende“, indem sie im Ausland Waren einkaufen und in Rußland wieder verkaufen; 12 Millionen sind Straßenverkäufer, von denen sich 300 000 Menschen durch kriminelle Erpressung ernähren; fast 3 Millionen Menschen arbeiten in Banken; eine halbe Million sind als Bodyguards beschäftigt, die das Leben der „neuen Russen“ beschützen, eine halbe Million sind Bedienstete dieser „neuen Russen“, wozu Ionow auch die Angestellten in Spielkasinos und Nachtclubs zählt ...

Ionow, ehemals Professor an der Militärakademie Twer, schreibt mit berührender Leidenschaft und großer Anteilnahme über die unregierbare Struktur des russischen Staates, dessen komplizierte Parteienlandschaft, die Reformen der russischen Wirtschaft, über bezahlte Kandidatenplätze, Lebensmittelimporte in Fabelhöhe, das „Abfließen der Gehirne“, russisches Auslandskapital in westlichen Banken in Höhe von über 700 Milliarden Dollar...

Der Generalmajor weiß: Die eskalierenden Folgen der schlimmsten Krise in der russischen Geschichte tangieren auch andere Länder Osteuropas und Mittelasiens, bedrohen die Weltordnung und die Weltzivilisation.

Quo vadis, Rußland? Viel Optimistisches hat uns Ionow in seinem Buch nicht mitzuteilen, fürchtet er doch sogar um die Existenz der Russen als Nation. „Rußland kann nur auf einem neuen Weg nach vorn wiedererstarken, sicher sehr schmerzhaft, aber aus eigener Kraft. Die entscheidende Hilfe des Westens müßte daran bestehen, diesen Prozeß nicht zu bremsen, Rußland nicht weiter zu stören.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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