Eine Annotation von Gisela Reller


Umanskij, Semjon S.: Jüdisches Glück

Bericht aus der Ukraine 1933-1944.
Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Ingrid Damerow.
Buchreihe „Lebensbilder“, Jüdische Erinnerungen und Zeugnisse.

Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1998, 183S.

 

Jüdisches Glück - was für ein irreführender Titel. Erst im Innern des Buches erfährt der Leser, daß er ironisch gemeint ist und bei den Juden „In der Tinte sitzen“ bedeutet.

Die in diesem Buch geschilderten Ungeheuerlichkeiten haben 1933 bis 1944 in Transnistrien stattgefunden, einem schmalen Landstreifen zwischen Rumänien und der Ukraine, nicht weit vom Schwarzen Meer entfernt; die Bezeichnung Transnistrien wurde im Zweiten Weltkrieg benutzt und bezieht sich auf den Teil der Ukraine, den die deutschen und rumänischen Truppen im Sommer 1941 eroberten und den Hitler den Rumänen zur Belohnung für deren Teilnahme am Krieg gegen die Sowjetunion überließ. Auf Grund der besonderen geographischen Lage lebte dort eine Vielvölkergemeinschaft, die damals aus Ukrainern, Russen, Rumänen, sogenannten Volksdeutschen und zahlreichen Juden bestand.

Semjon S. Umanskij beginnt seinen authentischen Bericht in seinem Geburtsort Tultschin, genau dem Tultschin, das Alexander Puschkin in seinem Eugen Onegin erwähnt. Hier erlebt und überlebt der Autor als Kind die berüchtigten Hungerjahre 1932/33, die infolge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durch Stalin in der Ukraine vier Millionen Menschen den Tod brachten. Als dann 1941 deutsche Truppenverbände auch in diese Region einfielen, begann sogleich die Verfolgung der jüdischen Minderheit. Den Umanskijs - Vater, Mutter und zwei Kindern - gelingt die Flucht vor den Erschießungskommandos. Sechs Wochen lang irren die vier hungrigen, frierenden Menschen im eisigen Kriegswinter 1941/42 durch die ukrainischen Wälder. Als sie nicht mehr ein noch aus wissen, gehen sie freiwillig in das Konzentrationslager von Petschora. Über dieses unglaubliche Lager wird in diesem Buch erstmals berichtet. Hier wurden die Juden aus den umliegenden Gebieten und Dörfern eingesperrt - ohne ihnen zu essen und zu trinken zu geben, ja, ohne sie überhaupt zu registrieren. „Eine ,kostengünstigere‘ Art der Ermordung“, schreibt Umanskij, „kenne ich nicht.“ Der Autor zeigt in seinem Lebensbild auch, wie sehr regionale Kollaborateure an den Grausamkeiten der nationalsozialistischen Judenverfolgung beteiligt waren. So stellten im Todeslager von Petschora allein die ukrainischen Polizisten die Wachen. „Ihnen zitterte nicht die Hand, wenn sie einen Häftling erschossen oder zu Tode prügelten.“ Semjon S. Umanskij kann mit seinem Vater und seiner Schwester - die Mutter ist im Lager an Typhus gestorben - aus der Hölle von Petschora entkommen, sie fliehen in das Ghetto der rumänischen Stadt Berchad.

Am 14. März 1944 erfolgte die ersehnte Befreiung durch die Rote Armee, da ist Semjon 15 Jahre alt. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, setzt der Werbetexter des Verlages die Befreiung durch die Sowjetsoldaten in Anführungszeichen ...

Semjon S. Umanskij - 1929 geboren, von 1953 bis 1957 Militärarzt auf Kamtschatka, ab 1957 bei der Baltischen Flotte, seit 1971 vorzeitig pensioniert, lebt seit 1957 in Tallinn/Estland - hat eine zutiefst ergreifende Autobiographie geschrieben, geradezu literarisch das Porträt seiner „wunderbaren, schönen, klugen, starken“ Mutter.

Die Buchreihe „Lebensbilder“ will dunkle Flecken in der Geschichte des Nationalsozialismus anhand von Autobiographien aufhellen. Mit Semjon S.Umanskij, der mehr als fünfzig Jahre zögerte, seine Erinnerungen niederzuschreiben, ist dieses Anliegen des Verlages beindruckend gelungen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite