Eine Annotation von Björn Berg


Nijinsky, Waslaw: Tagebücher

Aus dem Russischen von Alfred Frank.

Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1998, 282 S.

 

O Gott, mein Gott, o Gott! Was von einem Mann halten, der sagt: „Ich bin Gott. Ich bin Gott. Ich bin Gott ...“? Ihn für verrückt erklären? Er hat sich selbst für verrückt erklärt und andere ihn: Waslaw Nijinsky, der über sich auch sagte: „Ich habe das Leben des Geisteskranken verstanden und gelebt.“ Nijinsky hat es drei Jahrzehnte gelebt. Den Satz schrieb der 29jährige „Jahrhundert“-Tänzer, als er sich für immer von der Bühne und somit aus der Öffentlichkeit verabschiedete. - Phantastisch mutet an, was der russische Tanzvirtuose in den Wintermonaten des Jahres 1919 in drei Heften notierte. Die Tagebuch-Texte des Schizophrenen, die nun ungekürzt bei Insel erschienen, sind ohne Scham, ohne Scheinheiligkeit, ohne Schäbigkeit. Worte sind für Nijinsky Worte, um Worte zu wiederholen wie Gedanken, Ideen. In allem Gesagten ist der im Geist Gestörte widersprüchlich. Wenn er ungeniert über Zu- und Abneigungen spricht, die seiner Frau gelten und dem Meister-Impressario Djagilew. Wenn er sich über Gott und die Welt ausläßt. In allem Gesagten ist auch eine erstaunliche Klarheit. Beteuert Nijinsky immer wieder „Ich will den ganzen Erdball vor dem Ersticken retten“, äußert er sich als ein konsequenterer Grüner als alle Grünen der Gegenwart. Lesern, denen es gelingt, Wesentliches vom Unwesentlichen, Wahres vom Unwahren, Realität von Fiktion zu trennen und das Tragische der Texte zu akzeptieren, werden manchen Satz in sich aufbewahren. Zum Beispiel: „Ich mag keine trockenen Leute, und darum mag ich keine Geschäftsleute.“ Oder: „Die Börse ist ein Bordell.“ Oder: „Ich sah einen Abgrund ohne Baum.“ Gott sei Dank hatten wir auch den göttlichen Tänzer Nijinsky hier und somit auch seine traurigen Tagebücher, die garantiert nicht nur in triste Stimmung versetzen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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