Eine Annotation von Bernd Heimberger


Hartung, Harald (Hrsg.): Jahrhundertgedächtnis

Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert.

Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998, 469 S.

 

Der Germanist Jörg Drews ist eine Autorität seines Fachs. Er ist auch autoritär. Er hat den Deutschsprachigen diktiert, „was bleibt“ von deutschsprachiger Dichtung des Jahrhunderts. Wenn uns alle längst das Zeitliche gesegnet hat, wird die Zeit entschieden haben, was wirklich geblieben ist. Drews preschte mit seiner Jahrhundertübersicht der Lyrik vor und wird nun von Dutzenden Jahrhundert-Anthologien bombardiert werden. Auch nicht unbescheiden, offeriert Reclam Stuttgart den Band das Jahrhundertgedächtnis, der „Deutsche Lyrik im 20.Jahrhundert“ vor allem den Gebildeten empfiehlt.

Reclam holte sich Harald Hartung als Herausgeber. Auch kein unbeschriebenes Blatt. Auch eine Koryphäe. Als Rezensent der Literatur, als Lyriker. Hartung ist nicht so gnadenlos wie Kollege Drews. Hartung ist Experimental-Lyrik weit weniger wichtig. Er legt Wert auf Entwicklungslinien der Lyrik, das heißt auf die geistige Linie, die er sieht. Das bedeutet, auf das hinzuweisen, was als Ausdruck der Zeit für die Zeit gilt und über die Zeiten hinaus Auskunft sein kann. Damit hat Hartung seine Sammlung vor jeder Beliebigkeit bewahrt. Wenn schon nicht Blut und Tränen, so muß das Kompendium den Herausgeber genug Schweiß gekostet haben. Der geistige Gehalt der Gedichte des Jahrhunderts, die Hartung vorstellt, ist das Er gebnis des Gehabten, Gewesenen, Gewachsenen. Folgerichtig beginnt der Band mit jenen, die schon vor dem Beginn des Jahrhunderts da waren. Nietzsche und Holz, Dehmel und George, Else Lasker-Schüler, von Hofmannsthal und Rilke. Die Aufnahme in die Anthologie war nicht nur dadurch garantiert, daß sie für einen gleitenden Übergang sorgen. Welche Linie, die nicht ihre Übergänge hat? Die Übergänge sichtbar zu halten ist dem Herausgeber erst schwer geworden, als er sich mit der deutschen Lyrik der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu beschäftigen hatte. Bei Hartung gibt es keinen Czechowski, keinen Grassmann, keinen Leising, keinen Papenfuß. Näher sind ihm Hahn, Haufs, Kiwus, von Petersdorf. Das west-deutsche Umfeld, in dem auch Hartung wuchs, ist genauer beachtet und bedacht worden als das ost-deutsche. Also ein Jahrhundertgedächtnis mit Erinnerungslücken? Wie an etwas erinnern, was kein Erlebnis und somit keine Erfahrung war? Auch eine Anthologie ist nur so gut wie ihre Auslassungen. Harald Hartung hat sich mit der angebotenen Ausgabe auf Zu- und Widerspruch eingelassen. Gut so!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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