Eine Annotation von Alice Scemana


Desai, Kiran: Der Guru im Guavenbaum

Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube.
Karl Blessing Verlag, München 1998, 252 S.

 

Sampaths Geburt war mit dem Ende einer monatelangen, verzehrenden Hitzeperiode zusammengefallen; im heftigsten Monsunregen hatte der nunmehr erwachsene junge Mann das Licht eines armen indischen Dorfes erblickt. Seine Mutter, eine seltsam-versponnene Frau, bildet den Gegenpol zu seinem fast preußisch-korrekten Vater, der aus dem jungen Faulpelz einen verantwortungsbewußten Mann machen will. Eine „Stelle beim Staat“, d. h. im hintersten Winkel eines Postamtes, verschafft Sampath zwar ein Einkommen, aber auch - in seinen Augen - Mühsal und Trübsinn. Ein spektakulärer Auftritt auf der Hochzeit der Tochter seines Chefs befreit Sampath von den „Qualen“ eines normalen Lebens. Nun hat er wieder Zeit ohne Ende und könnte glücklich sein, wäre da nicht seine Familie. Sampath ergreift die Flucht und findet sich schließlich auf einem Guavenbaum inmitten eines riesigen alten Obstgartens wieder. Hier erfährt er die Macht der Verweigerung: Nichts, aber auch gar nichts kann ihn mehr zum Abstieg bewegen. Eine mühsam ausfindig gemachte Braut wird zurückgewiesen, der Arzt muß zu ihm in den Baum klettern. Die Familie beginnt, sich mit der Situation abzufinden und organisiert ein Lebenserhaltungsprogramm für den Faulenzer: ein Bett wird in den Baum gehievt, das Essen wird ihm hinaufgereicht, ein Sonnenschirm zu seinem Schutz vor der Sonne in der Baumkrone verankert. Sampath ist selig. Als die Leute kommen, um ihn zu bestaunen und die Familie zu bemitleiden, erinnert er sich wieder an bisweilen pikante Details, sorgsam gehütete Geheimnisse aus den Briefen, die er im Postamt heimlich gelesen hatte, und wirft diese zu seiner Unterhaltung wie Bröckchen unter das neugierig oder beschämt lauschende Publikum. So begründet sich sein Ruf als Hellseher, ein paar mysteriös-verschwommene Sätze auf die Fragen der Menschen machen aus ihm einen Guru. Von nun an scheint nicht nur für ihn, sondern auch für seine Familie die Zukunft gesichert, gäbe es da nicht eine Horde dem Trunke ergebener wilder Affen...

Diese schön erzählte Geschichte ist ein wunderbares Schelmenstück der englischsprachigen indischen Literatur. Kiran Desai, Tochter der Schriftstellerin Anita Desai, hat ein feines Gespür für die Menschen und ihre bisweilen skurrilen Verhaltensweisen, die nur einer anderen Deutung bedürfen, um eine völlig neue Situation zu erschaffen, aber auch für deren Fähigkeit, aus einer ausweglosen Situation das Beste zu machen. Der Roman ist das gelungene Debüt der in den USA lebenden Autorin. 1998 erhielt sie dafür den Betty Trask Award für Literatur.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 3/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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