Eine Rezension von Wolfgang Buth


Es lebe der Betong!

Axel und Margot Stommel: Betong oder die orthografische Standortsicherung
Deutschland, deine Rechtschreibung.

Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1998, 134 S.

 

Die Rechtschreibreform bewege die Bundesbürger zur Zeit wie kaum ein anderes Thema - das behauptet der Konkret Literatur Verlag auf dem Rücktitel des höchst aktuellen und spritzig geschriebenen Büchleins Betong oder die orthografische Standortsicherung. Das ist sicherlich übertrieben - gibt es doch Reformen (wie die Steuerreform und die Gesundheitsreform) oder die Einführung des Euro, die die Gemüter weit mehr bewegen. Trotzdem: Die Rechtschreibreform geht alle an, viele regt sie auf. Davon zeugen z. B. die andauernden Berichte in den Medien und die vielen Leserbriefe, die Bestrebungen für die Volksbegehren „Wir gegen die Rechtschreibreform“ (mit Sammlung Hunderttausender Unterschriften in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern) sowie der Frankfurter Appell führender deutscher Kulturträger vom Oktober 1996, als die Reform bereits beschlossen war!

Margot und Axel Stommel nehmen das aktuelle Geschehen rund um die Rechtschreibreform der 90er Jahre auf und verdichten es zu einer kritischen Gesellschaftsanalyse. Sie beschreiben die bekannten und die heimlichen Ziele der deutschen Rechtschreibung und beginnen mit 1876 bzw. 1901 (1. und 2. Orthographiekonferenz in Berlin: Einigung über das Regelwerk bzw. Einführung einer amtlichen Schreibung mit dem Duden). Der Verfasser dieses Rechtschreibwerkes, Konrad Duden, wies bereits 1902 darauf hin, daß die Überarbeitung des neuen, amtlichen Regelwerks von 1901 „unvermeidlich“ ist. Wir lesen richtig: Die Rechtschreibreform gibt es also schon seit Anfang dieses Jahrhunderts!

„Allerdings waren es wohl weder kämpfende und brüllende Löwen noch die schnellen Gazellen, die mit der Reformarbeit betraut worden waren, sondern eher Nachtschnecken. Unendlich viel nämlich mußte passieren, bevor sich eine Kommission mit Mitgliedern aus drei Staaten, die alle dieselbe Sprache sprechen, auf einen Vorschlag einigen konnte, der das Unkraut der willkürlichen Regeln, Ausnahmeregeln, Ausnahmen zu Ausnahmeregelung und Einzelfallregelungen im amtlichen Regelwerk zurückdrängt, indem sie aus 212 Regeln jene 100 aussortiert, die insgesamt nur 0,5 bis 2,5 Prozent der durchschnittlichen Schreibungen betreffen ...

Bis es soweit kommen konnte, starben Kommissionen und Kommissionsmitglieder reihenweise, wurden zwei Weltkriege geführt, entstand und verschied ein leibhaftiger, ganzer, neuer Teilnehmerstaat, die DDR, und geschah mancherlei Dramatisches mehr. Im Jahre 1992, als niemand mehr damit gerechnet hatte, war es dann plötzlich soweit: Die gerade zuständige Expertenkommission hatte sich auf einen Vorschlag geeinigt und diesen in Buchform (Vorschläge zur Regelung der deutschen Rechtschreibung, Tübingen 1992) veröffentlicht. Damit trat die Reform unvermittelt in ihre heiße Phase ein.“ (S. 84/85)

Was geschah? Zuerst nichts Wesentliches. Vor allem: kein Protest! 1995 wurde der Beschluß der internationalen Kommission für Orthographie über die Durchführung der Reform gefaßt, der Beschluß wird auf namentlich bayrische Einwände hin noch einmal aufgehoben. 1996 erfolgt der „endgültige“ Beschluß über die Einführung der Reform im Jahre 1998 mit einer Übergangsphase bis zum Jahre 2005. Im Sommer 1996 überschlagen sich die Verlage, die neuen Regelwerke herauszubringen. Sieger ist der Bertelsmann Lexikon Verlag. Der Dudenverlag hinkt mit mehr als einem Monat Verspätung (und doppeltem Preis) hinterher. Und nun beginnt der Protest, der bereits seit 1992 möglich war.

Die beiden Autoren analysieren den öffentlichen Meinungsstreit, der von unseren Politikern, Dichtern und Denkern geführt wird. Sie stellen fest: Die deutsche Rechtschreibung ist reparaturbedürftig. Und sie sind für notwendige Veränderungen, radikalere, einleuchtende(re).

Das Buch bewegt sich mit Witz und Ironie an der Schnittstelle von Bildungspolitik, Gesellschaftsanalyse und Philosophie, von Schule und Schulerinnerung. Es ist tiefgründig, leicht und heiter zugleich. „Betong“ bietet den interessierten Leserinnen und Lesern Gelegenheit zum vergnüglichen Mit- und Nachdenken durch sprachliche Spiel- und Rätselaufgaben, Rechtschreibtests und viele, viele (absichtliche) Fehler und kleine Tricks (linke Seite z. B. alte, rechte Seite neue Rechtschreibung, ohne daß dies vorher angekündigt wird). Und vor allem: Das Buch beruhigt, es relativiert. Die meisten Änderungen betreffen die S-Laut-Schreibung (also statt „muß“, „Kuß“, „Nuß“, „daß“ nun „muss“, „Kuss“, „Nuss“, „dass“ - bei kurzen Vokalen). Vieles wird einfacher, besonders die Kommaregelung. Neu ist eine Hauptvariante („Orthographie“) neben der zulässigen Nebenvariante („Orthografie“). Die Praxis bis zum Jahre 2005 wird zeigen, ob und wie die Rechtschreibreform angenommen wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite