Eine Rezension von Ursula Reinhold


Berlin als Ort russisch-deutscher Begegnungen

Karl Schlögel: Berlin. Ostbahnhof Europas
Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert.

Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 1998, 365 S. mit zahlr. Abb.

 

Der Autor dokumentiert ein Stück Kulturgeschichte der Begegnungen zwischen Deutschen und Russen im Berlin der Weimarer Republik bis zu ihrem Ende. Das Bemerkenswerte seiner Darstellung liegt darin, daß er die Beziehungen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen gleichrangig behandelt. Er beleuchtet die politisch-diplomatischen Berührungen, die kulturellen und geistigen Begegnungen, den Austausch zwischen Reichswehr und Roter Armee, die wissenschaftlichen Bemühungen um eine angemessene Sicht auf Rußland und die Sowjetunion in der deutschen akademischen Landschaft; neben das organisatorische Netz geflecht der internationalen revolutionären Bewegung stellt er die lebenswirkliche Welt der revolutionsfeindlichen Emigranten in Berlin.

Er nimmt solcherart Beziehungen als einen Wert für sich, umfassende Kontakte und daraus herrührendes Kennenlernen als Voraussetzung eines friedlichen zivilen Umgangs zwischen Völkern, Nationen, Lebensvorstellungen. Von diesem Blickpunkt aus ist er bemüht, die im historischen Kontext wirksamen polaren Ideologisierungen nur beiläufig zu behandeln, den damals waltenden politischen, philosophischen und weltanschauliche Differenzen von heute her eher weniger Gewicht zuzuordnen, als sie damals besaßen. Über weite Strecken folgte ich ihm dabei mit interessierter Anteilnahme, obwohl ihm mitunter die sozialen und politischen Widersprüche der Zeit und die sie reflektierenden geistesgeschichtlichen Positionen aus dem Blickfeld geraten. Interessante Einblicke vermittelt er in „Sankt Petersburg am Wittenberg Platz“, wo er das lebensweltliche Umfeld der russischen Emigration in Berlin entstehen läßt und dabei die publizistischen und kulturellen Aktivitäten rekonstruiert. Mit historischen Stadtführern und Adressen rückt er die Lokalitäten des damaligen Geschehens ins Blickfeld. Er stellt die Geschichte so als Beziehung zwischen Menschen und ihren Orten dar. Auf diese Weise entsteht das Berlin der Weimarer Republik als lebendige Begegnungsstätte deutsch-russischer Beziehungen, der Autor sucht die Orte auf, wo sie stattgefunden haben. Interessant sind seine Darlegungen über die Tätigkeit der sowjetischen Botschaft in Berlin, die eine wichtige Begegnungstätte nicht nur für die Freunde des neuen Rußlands, sondern auch für konservative Kreise der Reichswehr und der am Osthandel interessierten Wirtschaftskreise war. Die deutsch-sowjetischen Militärbeziehungen, die durch Hitlers Eroberungskrieg in kriegerischer Konfrontation endeten, stellt er in einem eigenen Kapitel vor. Er rekonstruiert das Schicksal der beiden Botschafter der Zwischenkriegszeit, die beide schließlich als Verräter gebrandmarkt wurden: Nikolai Krestinski, der in Stalins Lagern sein Ende fand, und Graf Schulenburg, der zusammen mit den Attentätern des 20. Juli 1944 hingerichtet wurde. In einigen Abschnitten geht der Autor den Beziehungen zwischen den deutschen Kommunisten und den Organisationen, Agenten und Missionaren der internationalen revolutionären Bewegung nach. Unter dem Titel „Global Village Komintern“ skizziert er das Organisationsnetz der Kommunistischen Internationale in Berlin, ohne allerdings die häufig anzutreffende Vorstellung zu erwecken, daß das ganze „rote Berlin“ eine Erfindung des Kremls bzw. der Komintern gewesen sei. Radek lernen wir in seinem Berliner Aufenthalt als pragmatischen Politiker kennen, der als ein in Moabit einsitzender Häftling vielbesuchter Gesprächspartner war. Im Unterschied zu diesen roten Orten bringt der Autor konträre Stadtwahrnehmung durch bekannte russische Emigranten ein, die wie der Schriftsteller Nabokov in Berlin als Taxifahrer tätig waren und über ihre Berliner Eindrücke in sarkastischem Ton geschrieben haben. Auch die Darstellung der Widersprüche unter den russischen Juden an Hand des Tagebuches von Simon Dubnow, der seit den russischen Pogromen in Berlin lebte, bringt interessante Aufschlüsse über die Stellung der Juden in Rußland vor und nach der Revolution und im Berlin der Weimarer Republik bzw. über deren Vertreibung und Vernichtung nach 1933. Der Reigen der unterschiedlichen Blickpunkte wird durch die Nachzeichnung der massenkulturellen Verwertung der Geschichte der vermeintlichen Zarentochter Anastasia in Illustrierten und Film ins Arabeske geweitet, eine Darlegung, die Einblicke in die von den Medien genutzte massenpsychologische Bedürfnislage zuläßt.

Der sachkundigen Darstellung über die intensiven und weitreichenden Beziehungen zwischen Deutschen und Russen im Zwischenkriegszeitalter, die schließlich in der Barbarei des Krieges und des Faschismus ihr Ende fanden, wohnt die Hoffnung inne, daß sie recht bald wieder so sein mögen. Der Autor beginnt die Darlegungen mit der Rolle des Schlesischen Bahnhofs, der ein wichtiger Ort der Ankömmlinge aus dem Osten war, und bezieht Kursbücher, Fahrpläne als Dokumente einer spezifischen Geschichtszeit ein, die heute vorüber ist, denn an deren Stelle ist längst der Flugverkehr getreten. Das Material seiner Untersuchungen entstammt einschlägigen historischen Forschungen zu den deutsch-russischen Beziehungen in der Weimarer Republik, die in Ost wie in West vorgelegt wurden und an denen der Autor z.T. selbst seinen Anteil hat, aber vor allem wertet er eine umfangreiche Memoirenliteratur von Zeitzeugen, Journalisten, Geheimdienstmitarbeitern und Schriftstellern aus, aus denen er die Orte und Konstellationen der Begegnungen rekonstruiert und z.T. in Adressenübersichten zusammenstellt. Eine wichtige Quelle von deutscher Seite sind die Tagebücher von Harry Graf Kessler, der die Russen in Berlin gekannt und sie beschrieben hat und sowohl mit exilierten Russen als auch mit Vertretern des revolutionären Rußlands verkehrt hat. Auch für die russische Seite wertet er eine umfangreiche Erinnerungsliteratur aus.

In einer Hinsicht kann ich den Darlegungen des Autors nicht folgen. Er läßt sich, durch die Sympathie für seinen Gegenstand getragen, zu einer allzu euphorischen Sicht hinreißen. Er widmet die Darstellung den Opfern Hitlers und Stalins und erweckt den Eindruck, als hätten sich in der kurzen Zwischenkriegsphase bis zu Beginn der dreißiger Jahre im diplomatischen, militärischen, politischen, wirtschaftlichen Bereich allenthalben zivile Verkehrsformen ausgebildet, die nur durch Stalins und Hitlers Methoden der Barbarei anheimfielen. Er blendet vollkommen aus, daß die zivilen Verkehrsformen der bürgerlichen Welt schon durch den 1. Weltkrieg erschüttert und zerstört wurden und daß sie auch davor immer nur eine sehr begrenzte Tragfähigkeit besaßen, die jederzeit durch gewalttätige Formen politischer Auseinandersetzungen außer Kraft gesetzt werden konnten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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