Eine Rezension von Bernhard Meyer


Halbgötter in Weiß sind auch nur Menschen

Hans Pfeiffer: Der hippokratische Verrat
Mörderische Ärzte.

Militzke Verlag, Leipzig 1997, 224 S.

 

Ärzte genießen unser Vertrauen, obwohl wir wissen, daß die sogenannten „Halbgötter in Weiß“ auch nur Menschen sind, sich irren können, Laster haben, nach Reichtum streben, unangenehmen Charakters sein können, verheiratet sind und Liebschaften dennoch nicht ausschlagen. Wir verdrängen das alles ein wenig, weil wir den integeren Arzt sehen wollen, der nur für uns da ist, unser medizinisches Anliegen zu seiner Herzenssache macht. Freilich wird dieses Bild immer mehr demontiert, wozu diverse aktuelle Fernsehserien ebenso beitragen wie Meldungen über manipulierte Abrechnungen. Indes wird mancher denken, das Geschehene sei ja nur Kino und die Bereicherung schade ihm medizinisch nicht, der von ihm ausgewählte Arzt sei ganz anders.

Tatsächlich aber kann ein Arzt sogar zum Gewälttäter werden. Mörder sind ja nicht auf bestimmte Berufe festgelegt. Die Leidenschaft zu einer anderen als der eigenen Frau, maßlose Geldgier, rasende Eifersucht und ähnliche Motive sind berufsunabhängig, da allgemeinmenschlicher Natur. Ein Mann, der mit dem Arztkittel auch sein berufsethisches Gewissen ablegt und wegen unbewältigter Probleme in seiner Privatsphäre zum profanen Mörder wird - das erregt auf dem Buchmarkt ein gewisses Aufsehen, denn so etwas bekommt man nicht alle Tage geboten; ein mörderischer Arzt ist allemal spektakulärer, als wenn ein Lehrer, ein Jurist, ein Chemiker oder ein Volkswirt das Leben eines anderen Menschen gewaltsam beendet. Es gäbe aber vielleicht noch eine Steigerung - der Pfarrer als Mörder.

Der Schriftsteller Hans Pfeiffer jedenfalls legte noch kurz vor seinem Tode 1998 seiner treuen Leserschaft Berichte über Verbrechen vor, die von Ärzten begangen wurden. Die Berichtsform soll hier hervorgehoben werden, denn das Buch ist und will keine wissenschaftliche Aufarbeitung der medizinischen Aspekte der begangenen Mordtaten sein. Der Band versammelt 14Mord-Berichte, die vorwiegend von Verbrechen Kenntnis geben, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern tatsächlich geschahen und seinerzeit die Gemüter der Menschen erregten. Die Prozesse wurden zu Ereignissen und überall aufmerksam verfolgt. Die Täter der vorgelegten Berichte sind übrigens immer männlichen Geschlechts. Liegt das nur daran, daß es in jenem Zeitraum bloß wenige weibliche Ärzte gab?

Jeder Fall wird spannend wiedergegeben und liest sich atemberaubend schnell weg, wobei die nur mäßige intellektuelle und psychologische Ausdeutung der handelnden Personen nicht zu übersehen ist. Ein Defizit, das andererseits die Handlung zügig voranbringt und den seitenmäßigen Umfang eines jeden Falles in Grenzen hält.

Die Ärzte, von denen hier die Rede ist, nutzten für ihre Verbrechen vornehmlich erworbenes Berufswissen, was bedeutet, daß sie häufig zu Giftmördern wurden. Schußwaffen spielten bei ihren Taten keine Rolle, dafür Pflanzengifte, Quecksilber, indianisches Pfeilgift, Überdosierung von Schlafmitteln unter Verwendung von Alkohol, Strom. Das Schema der meisten Fälle gleicht sich: Die Mordgedanken richten sich meistens gegen die Ehefrau, der Täter in spe kramt in seinem medizinischen Gedächtnis, wälzt ihm leicht zugängliche und verständliche Fachliteratur und kommt zu einer Variante, von der er - wie alle Mörder - meint, sie sei genial und absolut perfekt. Der Leser wird nebenbei zu der Erkenntnis geführt, daß der wissenschaftlich berechnete Mord genau so irreal ist wie der perfekte Mord. Aber die Ärzte, von denen Pfeiffer berichtet, fühlten sich alle sicher, da sie sich auf ihrem ureigensten Terrain bewegten. Das jedoch war ein für sie verhängnisvoller Trugschluß, denn sie besaßen zwar allgemeinmedizinische Spezialkenntnisse, waren aber keineswegs pharmakologisch oder gerichtsmedizinisch besonders erfahren. Es ist schon erstaunlich, wie naiv und lebensfremd die intellektuellen Männer ihre Taten organisierten und ausführten, beispielsweise Dr. Crippen (1910), der das verwendete Pflanzengift in der nahe gelegenen Apotheke kaufte. Barbarisch geradezu die Tat des Dr. Bröcher (1927), der sein Opfer mit einem Medikament krankenhausreif „behandelte“, um es dann dort sterben zu lassen. Interessanter als die Motive der Mörder, sie resultieren meist aus Partnerschaftsbeziehungen, ist, wie ein Arzt mit seinem Wissen vorgeht - vermeintlich medizinisch exakt in der Vorbereitung, häufig dilettantisch in der Ausführung und sorglos hinsichtlich der zu erwartenden kriminalistischen Untersuchungen. Letzteres verwundert besonders, offenbart unzureichendes Wissen über neue wissenschaftliche Methoden der Grenzwissenschaften, mit denen Nachweise über verwendete Substanzen geführt werden können. Auffällig (und hinsichtlich der normalen Rezeptierung von Arzneien für den Patienten beim Arztbesuch bedenklich), wie oft grobe Fehler bei der Dosierung der Gifte gemacht wurden. Es bleibt als Quintessenz die bei Ärzten nicht zu vermutende mäßige kriminalistische Intelligenz, die unter Handlungsdruck bei der nicht alltäglichen, gewaltsamen Lösung eines persönlichen Problems zu einer weitgehenden Ausschaltung des rationellen Denkens führt. Man gewinnt durchaus den Eindruck, ein gewöhnlicher Krimineller handelt und verschleiert überlegter.

Drei Berichte von Hans Pfeiffer fallen aus dem Rahmen der allgemeinen Konzeption des Buches, obwohl es darin ebenfalls um hippokratischen Verrat geht. Zum einen handelt es sich um den Fall des amerikanischen Arztes Dr. Sander, der 1950 unter Mordanklage geriet, weil er aus Mitleid einer todkranken Patientin bewußt aktive Sterbehilfe leistete und dies mit seiner ärztlichen Ethik als vereinbar betrachtete. Das Thema ist bis heute in aller Welt nicht bewältigt und mit so vielen spezifischen Problemen behaftet, daß daraus kein Kriminalfall gemacht werden sollte. Ebenso abzulehnen ist die Aufnahme des Lübecker Impfzwischenfalls von 1930. In Lübeck starben seinerzeit 75 von 245 an Tuberkulose erkrankten und mit dem neuen, aber noch umstrittenen Impfstoff der französischen Bakteriologen Albert Calmette und Camille Guérin geimpften Säuglingen. Die reißerische Überschrift „Mörderische Wissenschaft“ führt den Leser gedanklich auf nicht zu akzeptierende Abwege, denn immerhin bildete die wissenschaftliche Leistung der Franzosen die entscheidende Grundlage für die später erfolgreiche BCG-Schutzimpfung („Bacille Calmette Guérin“). Nicht die medizinische Wissenschaft wurde in diesem Fall zur Mörderin, sondern zum Mörder wurde einer ihrer Vertreter durch seinen moralisch und juristisch zu verurteilenden übersteigerten Ehrgeiz und sein persönlich schuldhaftes unsachgemäßes Vorgehen.

Der letzte Bericht des Bandes trägt die Überschrift „Ein Arzt als Serienkiller“. Handelnde Person ist Dr. med. Siegmund Rascher, der aus persönlichem Ehrgeiz heraus während des Faschismus medizinische Versuche an KZ-Häftlingen durchführte (u. a. Testung von Höhenflugtauglichkeit in Unterdruckkammern im Konzentrationslager Dauchau) und dabei mindestens 150 Menschen zu Tode quälte. Seine verbrecherischen Taten sind wohl anders einzuordnen und zu verurteilen als die der ärztlichen Mörder, die aus Eifersucht oder sexueller Begierde straffällig wurden. Wolfgang Benz hat die Verbrechen des Dr. Rascher 1993 aufgearbeitet und in den „Dauchauer Heften Nr. 4“ (Pfeiffer stützte sich darauf) den Platz zugewiesen, die ihnen als Auswuchs der Medizin im NS-Staat zukommen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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