Eine Rezension von Karl Friedrich


Plädoyer für eine zweite Bildungsreform

Oskar Negt: Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche

Steidl Verlag, Göttingen 1997, 432 S.

 

Umbruchzeiten sind immer auch Krisenzeiten. Die Nachlässigkeiten und Fehler der älteren Generationen betreffen vor allem die nachwachsenden Generationen. Seit Jahren kann jeder sehen, was unter Kindern und Jugendlichen um sich gegriffen hat. Der Philosoph und Soziologe Oskar Negt, der in Hannover Soziologie lehrt und gleichzeitig (seit 1972) unmittelbare Schulerfahrungen in der von ihm begründeten Glocksee-Schule besitzt, schreibt aus Betroffenheit. Es geht, auch in der Pädagogik, nicht um Alternativmodelle wie Realität oder Utopie, sondern Realität und Utopie sollten zusammengehören. Doch was, fragt Negt, sollen die Kinder für das 21. Jahrhundert lernen? Und vor allem: Wie und wo sollen sie es lernen?

Zunächst beschreibt Oskar Negt die gegenwärtige Situation als die einer „epochalen Strukturkrise“, immer wieder bemäntelt durch „öffentliche Beschwörungsrituale“ und durch anhaltenden Ideen-Lug-und -Trug, „durch Wortoptimismus die Verhältnisse zum Besseren wenden zu wollen“. Negt spricht mehrfach auch von einer „Erosionskrise“ und meint damit den „aus den Fugen geratenen gesamtgesellschaftlichen Zustand, in dem kein Stein mehr auf dem anderen bleibt“. Produktionsformen, Arbeitsmethoden, alles ändert sich rasant, und in diesem Prozeß wird es auch nicht länger zu verhindern sein, daß Lerninhalte und Lernmethoden stärker als bisher neu durchdacht werden müssen. Exemplarisches Lernen hilft da weiter, und alternative Bildungskonzepte erreichen auch Leute, jung oder schon etwas älter, die nicht im Still- oder Wartestand verharren möchten.

Oskar Negt macht Vorschläge, er führt den Begriff „Kinderöffentlichkeit“ ein und versteht darunter die „Freisetzung der körperlichen Bewegung und die Überwindung der gesellschaftlich festgeschriebenen Raumeinteilung“. Kinder, das ist ganz wichtig, „brauchen, wenn sie ihre spezifische Form von Sinnlichkeit vergegenständlichen, eine deutlich raumbetontere Öffentlichkeit als Erwachsene; sie benötigen Experimentiergelände, Plätze, ein offenes Aktionsfeld, in dem die Dinge nicht ein für allemal festgelegt, definiert, mit Namen versehen, unabänderlich durch Gebote und Verbote reglementiert sind“. Kinder benötigen zudem andere Zeiträume als Erwachsene, um sich entfalten zu können, doch was Negt hier postuliert, gilt im Grunde auch für die Erwachsenen, selbst für die dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß entwachsenen Menschen. Ein Probierfeld für die Zukunft, das müßte es doch eigentlich sein, was alle betrifft, alle interessieren müßte. Ein Feld, auf dem sich entscheidet, was künftighin aus allen (aus jedem) und aus allem (der Welt) werden wird. Das wäre die Vorstellung der Utopie durch Experimente. Spielerisch und ernst, produktiv und sinnlich, realistisch und phantastisch. Doch leider stoßen solche Ideen sofort auf Widerstände. Wer schon viel gearbeitet hat, dem fehlen oft die Energien für Neues. Wer viel besitzt, hat sowieso andere Interessen als der, der weniger besitzt. Die unterschiedlichen Interessen- und Besitzlagen in der Gesellschaft sind es mithin, die das Schwungrad der sinnlichen Phantasie-Gesellschaft, an dem auch Oskar Negt so gern mit drehen möchte, immer wieder bremsen.

Alternativpädagogik, Regelschule, Gesamtschule, offene Angebotsschule, alles Punkte, Erfahrungen, die hier ausführlich untersucht werden. Sie alle reichen nie ganz aus, um der Zukunft zu genügen. Negt geht alle Modelle, die es in dieser Hinsicht schon seit Jahrzehnten gibt, noch einmal gründlich durch. Er sichtet, wertet, resümiert, bilanziert, erinnert sich auch seiner eigenen Erlebnisse. Er bezieht sich oft und gern auf „große Kindheitsforscher“ auf „leidenschaftliche Erzieher wie Tolstoi, Pestalozzi, Makarenko“. Das eine Modell ist nie auf das andere übertragbar. Wie sich „Lerninteressen binden lassen“, wie was aus der Geschichte erlernbar ist, das, so gesteht Negt, hat ihn selbst nie losgelassen.

Ein persönlich geschriebenes Buch, das Wissenschaftsgeschichte und auch die Erfahrungen des Autors aus seiner Kindheit mit einbezieht. Somit ist es eigentlich auch kein theoretisches Buch. Wo Festlegung schadet, wird lieber darauf gesteuert, die Vielheit, Fragwürdigkeit des Problems als offene Frage zu belassen. Das Lernen selbst ist nie eine feststehende Angelegenheit. Das einmal Erlernte, Negt weiß es aus eigener Erfahrung, kann gut gewesen sein, es gilt oft kaum noch etwas, wenn es wie eine Stafette weitergereicht werden soll. Und es kommt zu allen Fragen auch mindestens noch ein weiteres, neueres Problem hinzu, das gerade jungen Menschen schwer zu schaffen macht: die verheerenden Auswirkungen der Bewußtseinsindustrie und ihrer Kommunikationsmittel.

Oskar Negt ist weite Wege gegangen, er hat heikle Punkte benannt, Möglichkeiten erwogen, auf brauchbare und unbrauchbare pädagogische Konzepte hingewiesen. Doch am Ende kommt auch er kaum voran, und so gebraucht er für den Zustand der Erziehungsarbeit wieder das Bild vom Sisyphos, der den Stein mühsam hinaufrollt auf den Berg, doch ganz gelingt ihm dies leider nie, und so rollt der Stein regelmäßig den Berg wieder hinunter. Das Spiel beginnt von vorn. Aber er hat doch dabei Erfahrung gesammelt. Richtig. Und somit besteht noch Hoffnung. Schon Camus, der Schöpfer dieses Mythos, ging von der zunächst paradoxen Vorstellung aus, Sisyphos müsse man sich als einen glücklichen Menschen vorstellen. Denn der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Camus nahm es genau: „Jedes Gran dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt.“

Für Oskar Negt ist dies nicht das Ende der Bemühungen, auch er liest diesen Mythos, bezogen auf die großen Krisen, auf den Zustand der Jugend und auf ihre zukünftigen Aussichten, nicht negativ. Man kann sich diesen Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen: „Aber irgendwann“, folgert der Autor dieses kenntnisreich und gut geschriebenen Buches, „muß es ihm gelingen, den verfluchten Stein über den Berg zu befördern. Erst das würde den menschenunwürdigen Mythos von der Wiederholung des Ewig-Gleichen brechen. Erziehungs- und Lernarbeit ist unendliche Mühe, dem Wiederholungszwang, der tödlich ist, zu widersprechen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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