Eine Rezension von Jürgen Birg


Ein sozialdemokratisches Jahrhundert?

Thomas Meyer: Die Transformation der Sozialdemokratie.
Eine Partei auf dem Weg ins 21. Jahrhundert.

J. H. W. Dietz Nachfolger, Bonn 1998, 256 S.

 

Der Autor, geboren 1943 und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Dortmund, leitet die Akademie der politischen Bildung der Friedrich-Ebert-Stiftung und ist stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD. In diesen Eigenschaften hat er mehrere Publikationen zu Themen sozialdemokratischer Programmatik, Theorie und Politik verfaßt. In vorliegender analysiert er und versucht er, Antworten zu finden, wie sich die Rahmenbedingungen für die Sozialdemokratie veränderten, welche politisch-programmatische Wandlungen die Sozialdemokratie vollzog, wie sie in der veränderten Welt der Gegenwart zu einer mehrheitsfähigen linken Reformpartei werden kann und welche Chancen bestehen, ihre Ziele zu verwirklichen.

Die 13 Kapitel befassen sich mit Geschichtlichem und Aktuellem, mit Programmatischem und Pragmatischem, mit Theoretischem und Praktischem. Im Mittelpunkt steht die SPD, aber Meyers Blickwinkel ist international ausgerichtet, er bezieht auch andere sozialdemokratische Parteien Europas in die Betrachtung mit ein. Allerdings läßt er - und das durchgängig - außereuropäische Parteien völlig außer acht. Da die sozialdemokratischen Parteien seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart einen „eindrucksvollen Weg beständiger Zunahme ihrer Anhänger und Wähler, des zunehmenden Einflusses ihrer politischen Programme auf Staat und Gesellschaft und der kulturellen Ausstrahlungskraft ihrer Leitideen zurückgelegt haben“, könne in diesem Sinne gesagt werden, „daß das zwanzigste Jahrhundert ein Jahrhundert der Sozialdemokratie war“. Diese Einschätzung wird an der Jahrhundertwende, wenn es um die Bilanzierung geht, wohl nicht ohne weiteres akzeptiert werden, widerspricht auch in manchem Meyers eigenen Analyse.

Als „generative Idee“ der Sozialdemokratie sieht Meyer „eine Gesellschaft der Freien und Gleichen“, die er als „Weiterentwicklung der liberalen Freiheitsbewegung und der Ideen der Aufklärung“ wertet. Die Sozialdemokratie habe in ihrer Umsetzung lange Lernprozesse durchlaufen, um ihre Programme den Realisierungsbedingungen anzunähern. Diese Prozesse erfolgten in den Ländern ungleichzeitig und haben erst in der Gegenwart zu einer weitgehenden Übereinstimmung geführt, wodurch die Bedingungen, die Wege und die Schritte zur Realisierung der Ziele geklärt seien. Meyer konzediert, daß dem sozialdemokratischen Konzept bis in die achtziger Jahren zwei Widersprüche innewohnten. Der eine resultierte aus der „weiten Kluft zwischen programmatischen Zieldeklarationen und politischer Praxis, der andere aus der uneinlösbaren Verheißung, daß mit der Verwirklichung des sozialdemokratischen Reformprogramms nicht nur Freiheit und Gerechtigkeit, sondern eine Erlösung von den gesellschaftlichen Widersprüchen selbst erreicht werden könnte.“ Durch einen Klärungsprozeß zwischen den fünfziger und siebziger Jahren seien die überschwenglichen Verheißungen einem nüchternen Selbstverständnis als pragramatische Reformparteien gewichen, sei in einem „grundwerteorientierten Reformsozialismus“ ein produktives Verhältnis von Prinzipien und Reformprojekten entstanden.

Staat und Gesellschaft, Demokratie und Diktatur, Verstaatlichung und Sozialisierung, Zweck und Mittel, Ökologie und Ökonomie sowie Grundwerte und komplexe Gesellschaft bilden die Problemfelder, in denen Meyer den Wandel früherer zu heutigen Positionen näher untersucht. Die eigentlichen Zwecke sozialdemokratischer Politik sind in Grundwerten formuliert, diese seien Maßstab für bestehende Zustände, für Reformprojekte, für Ideen zur Transformation der Gesellschaft und für die anzuwendenden Mittel und Formen der graduellen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Je komplexer die Gesellschaft geworden sei, um so deutlicher sei im sozialdemokratischen Selbstverständnis, daß nicht festliegende und verbindliche Modellvorstellungen, Programme, Organisations- und Strukturmodelle für die erstrebte Änderung der Gesellschaft Leitlinie ihres politischen Handelns sein könnten, sondern nur politische Grundwerte und Grundforderungen. Als fünf Säulen des modernen Sozialismus sieht er: liberale Demokratie, gemischte Wirtschaft, ausgebauter Wohlfahrtsstaat, keynesianische Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Glauben an gesellschaftliche Gleichheit.

Die Krise der Sozialdemokratie seit den siebziger Jahren habe eine bis jetzt dauernde Phase der Beschäftigung mit sich selbst ausgelöst. Auf neue Fragen und Herausforderungen wußte sie nicht eindeutig und wirksam zu antworten (u. a. Wahlverhalten von sozialen Gruppen, Verluste von Regierungsmacht, geistig-politische Defensive durch Vorherrschaft des Neoliberalismus, Mitgliederschwund, interne Spannungen, Identitätszweifel, Unzulänglichkeiten ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik, ökologische Probleme). Großen Raum nehmen in Meyers Untersuchung die soziologische Struktur der Gesellschaft und die darauf basierende Werte orientierung ein. Er konstatiert, daß für die Sozialdemokratie neue politische Konkurrenten entstanden sind, die die gleichen Wählergruppen, die gleichen politischen Fragen und neue Themen ansprechen wie sie selbst. Zugleich sei das Ende einer langen historischen Spaltung erreicht, da die kommunistischen Parteien entweder zu politischen Kleingruppen wurden oder sich aus der leninistischen Tradition verabschiedet haben und mehr oder weniger sozialdemokratisch geworden seien. Der Zusammenbruch des Kommunismus habe für eine Reihe von Jahren zur Schwächung der Sozialdemokratie beigetragen und der sozialdemokratischen Alternative zunächst keinen Auftrieb verliehen, sondern sie zusätzlich belastet.

Breit behandelt Meyer die mit der modernen Medien- und Kommunikationswelt verbundenen Probleme. U. a. macht er die (schlechte) Medienkommunikation für das Scheitern der SPD bei den Bundestagswahlen 1990 und 1994 verantwortlich. Er sieht die Sozialdemokratie als Programmpartei in dem Dilemma, daß sie ohne Beschreibung ihrer Projekte kaum Überzeugungskraft gewinne, andererseits ohne Präsenz ihrer Botschaften und Akteure in den Medien nicht genügende Breitenwirkung entfalten kann.

Im Ergebnis seiner Analyse versucht Meyer Kriterien aufzustellen, die sozialdemokratische Parteien erfüllen müßten, wenn sie als Regierungsparteien agieren und Vertrauen bei Bevölkerung und Wirtschaft haben wollen. Als erneuerte sozialdemokratische Identität nennt er: Vorrang politischer Verantwortung vor Marktlogik, soziale Grundsicherung und Beschäftigung, ökologisch verantwortetes Wachstum, neue Wege direkter gesellschaftlicher Demokratie, Wahrung der Universalität der Menschenrechte und Toleranz, zunehmende Globalisierung von Demokratie und Verantwortung sowie differenzierte Gleichheitspolitik. Das ist theoretisch recht allgemein gehalten und damit politisch pragmatisch (un)reali-sierbar, zudem inhaltlich sowohl in einigen Parteiprogrammen als auch im Programm der Sozialistischen Internationale (der Prinzipienerklärung von 1989, die erstaunlicherweise heute nur selten erwähnt wird) fixiert. Abschließend plädiert Meyer für das Beibehalten des Begriffs der Linken, er dürfe nicht zugunsten des Modernierungsbegriffs aufgegeben werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite