Eine Rezension von Volker Strebel


Deutsch-tschechische Begegnungen

Doris Liebermann/Jürgen Fuchs/Vlasta Wallat (Hrsg.): Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler

Klartext-Verlag, Essen 1998, 295 S.

 

Bundespräsident Roman Herzog hatte es möglich gemacht: Am 7. November 1996 trafen sich im Berliner Schloß Bellevue ehemalige tschechische und deutsche Bürgerrechtler. An diesem Tag war auch die Idee für das vorliegende Buch entstanden.

Im Vorwort wundert sich Doris Liebermann, daß eigenartigerweise sechs Jahre vergehen mußten, ehe sich ostdeutsche Bürgerrechtler und tschechische Dissidenten, also einstmalige Verbündete im Kampf gegen die Parteidiktaturen, für einen Tag zum Austausch trafen. Erstaunt stellt sie fest, daß „es an konkretem Wissen um einzelne Biographien fehlt, (...) ganz zu schweigen von einer generellen deutschen Hilflosigkeit im Umgang mit tschechischer Geschichte, Kultur, Literatur“. Dies trifft auf die neuen Bundesländer wohl in verschärfter Weise zu, da vor allem Informationen über die jüngste Geschichte des Nachbarlandes nur in verstümmelter Form zu haben waren. Nicht wenige plapperten, so wie sie es in den Schulen gelernt hatten, arglos von der „Konterrevolution“ im Jahr㥌. Hingegen nahm die Situation in der alten Bundesrepublik die des heutigen Gesamtdeutschland vorweg: Es wären Informationen, wenn auch verstreut publiziert, greifbar gewesen - allein das Interesse für genauere Hintergründe des böhmischen Nachbarlandes ist eher gering. Der vorliegende Band bietet eine vorzügliche Einführung in die spezifische tschechische Kultur und Politik der allerjüngsten Vergangenheit. Im Mittelteil werden verschiedene Persönlichkeiten in umfangreichen Gesprächen vorgestellt: Miloš Hájek z. B. repräsentierte die für die „Charta 77“ wichtige Gruppierung einstiger reformkommunistischer Politiker und Historiker: Trotz Verfolgung und Folterung in der Nazi-Zeit sagte Miloš Hájek von sich, daß er „auch im Gefängnis kein Chauvinist geworden“ ist. Mit Ruth Kotík, Jirina Šiklová und Annma Sabatová, die als Bürgerrechtlerin in Haft war und deren Mann, Petr Uhl, insgesamt neun Jahre Haft erlitten hatte, kommen die Frauen der „Charta 77“ zu Wort. Eine eigenartige Rollenteilung hatte sich da eingespielt. Während die Männer die Aufrufe unterschrieben und damit jederzeit einer Verhaftung gewärtig sein mußten, waren die Frauen für die Verteilung und Verbreitung der Dokumente zuständig. Ihre Phantasie war für das Gelingen des Gesamtunternehmens „Charta 77“ von entscheidender Bedeutung: „Die Frauen fühlten - meiner Meinung nach - eine große Verantwortung und auch Angst, und deswegen organisierten sie solche geheimen Verbindungen nie provokativ, sondern so, daß sie gut klappten (Jirina Šiková).“

Der Liedermacher Jaroslav Hutka kommt zu Wort oder auch der oppositionelle Pfarrer Kocáb, ferner der Philosoph Ladislav Hejdánek, dessen Buch Wahrheit und Widerstand 1988 in der Bundesrepublik erschienen war. Der Co-Vorsitzende der tschechisch-deutschen Historikerkommission (1990 auf Anregung der damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Jirí Dienstbier ins Leben gerufen) Professor Jan Kren berichtet von seiner „Deutschland-Forschung im Bauwagen“. Jan Kren, ein typisches Opfer der ideologischen Säuberungswelle nach dem niedergeschlagenen Prager Frühling, war wie Tausende andere Intellektuelle aus der kommunistischen Partei geworfen und aus der bisherigen Arbeitsstelle entlassen worden. Als hochqualifizierte Akademiker schlugen sich diese Leute als Fensterputzer, Heizer oder - im Fall des Jan Kren - als Wassermesser durch. In einem Bauwagen konzipierte und schrieb er über die Jahre an seinem großen Werk, das mittlerweile auch in deutscher Sprache vorliegt: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918. Im kanadischen Toronto besuchte Doris Liebermann den großen Romancier Josef Škvorecký, der offenbar erst jetzt langsam im deutschen Sprachraum entdeckt wird.

Aber nicht minder eindrucksvoll und lehrreich zugleich sind die Einblendungen im ersten Teil des Bandes. Tschechen wie Deutsche, zumal Böhmendeutsche, die nach dem Krieg Opfer der Vertreibung und Aussiedlung waren, bieten einen persönlichen Zugang zur Thematik. Besonders Edwin Kratschmers Skizze „Tatort Böhmen oder kde domov muj“ oder Ludmilla Rakušanovás Beitrag „Deutschland ist unsere Inspiration wie unser Schmerz“ beeindrucken durch die Frische ihrer Impressionen. Diese literarische Qualität erlaubt den Autoren, Tabus anzusprechen, schmerzhafte, ja grausame Begebenheiten ebenso zu benennen wie überraschend Menschliches. Der Meister des tschechischen Feuilletons, Ludvík Vakulík, stellt mit seiner „Wiederholung in der Deutschstunde“ einen überraschend polemischen Bezug her. „Die Charta 77“ war niemals ein monolithischer Block, und bald nach der siegreichen samtenen Revolution vom Winter 1989/1990 bildete sich eine bunte Parteienlandschaft heraus. Die Frage von Ladislav Hejdánek, ob die „Charta 77“ in ein Museum gehört“, wird in einem abschließenden Diskussionsteil dokumentiert. Der ehemalige Trotzkist Petr Uhl, der katholische Priester Václav Mály, der sächsische CDU-Umweltminister Arnold Vaatz, die Bündnisgrüne Marianne Birthler oder Jürgen Fuchs, der Dichter, den die Stasi seinerzeit aus dem Auto des Regimekritikers Robert Havemann heraus verhaftet hatte, diskutierten unter der Leitung von Jirí Gruša in charakteristischer Charta-Manier: einträchtig und hoffentlich nicht das letzte Mal.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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