Eine Rezension von Herbert Mayer


Kommunistischer Terror als Dauerthema

Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?

Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 456 S.

 

Um es vorwegzunehmen: Wer nicht wußte, was der Kommunismus war (und wer kann das schon von sich sagen), der weiß es nach der Lektüre des Buches erst recht nicht. Koenens Ausgangsthese, und nicht nur hierin zeigt sich sein Bezug und seine Anlehnung an das Schwarzbuch, besagt, daß der „reaktionär-utopische“ Versuch des Kommunismus darauf hinauslief, Staat, Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft von einem Zentrum aus total zu „säubern“.

Koenen ordnet - nach dem obligatorischen Vorwort - seine 14 Kapitel chronologisch an. Den Hauptgegenstand stellt die Entwicklung in der Sowjetunion dar, deren Geschichte er unter seinem Themenwinkel in Grundzügen und an Eckpunkten erörtert. In den ersten Abschnitten behandelt er die Entstehung der kommunistischen Ideologie und Bewegung bis zum Ersten Weltkrieg, in den folgenden Kapiteln die Entwicklung in der Sowjetunion bis zum Zweiten Weltkrieg. Anschließend folgt ein Vergleich von Nationalsozialismus und Stalinismus. Zwei Kapitel und das resümierende „Was war der Kommunismus?“ befassen sich mit der Zeit nach 1945. Leider ist aus den Kapitelüberschriften (z. B. „Marsch ins Niemandsland“, „Wechsel der Wegzeichen“, „Phönix und Asche“) nicht das jeweils behandelte Thema zu entnehmen. Zumindest helfen in einigen Abschnitten die Untertitel („Kollektivierung und Industrialisierung“ oder „Der Große Terror als endgültige Säuberung“).

Erkenntlich ist, daß das Anliegen des Autors weder wissenschaftliche Ausgewogenheit noch die Erschließung neuer Fakten, noch historiographischer Neuwert ist. Der Verzicht, Angaben und Zitate mit Quellenherkunft zu belegen, erweist sich wie in anderen Fällen als ungünstig. Zumindest ist ein - etwas schmalbrüstig geratenes - Literaturverzeichnis vorhanden. Sicher ist zugute zu halten, daß der Verfasser das Buch als Essay darreicht. Es ist lesbar geschrieben, wodurch es sich von manch qualvoll durchzulesenden historischen Wälzern unterscheidet. Koenen befaßt sich zunächst zustimmend und ablehnend mit Grundthesen des Schwarzbuchs. Keine prinzipiellen Einwände hat er, eine „historisch-moralische Gleichbehandlung des kommunistischen ,Soziozids‘ mit den anderen großen ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ - insbesondere denen der Nationalsozialisten“ vorzunehmen. Wenig sachlich erhellend und analytisch produktiv hält er hingegen, den Kommunismus auf der Ebene der schieren Verbrechen dem Nationalsozialismus anzunähern und schließlich ihm fast gleichzusetzen. In den Totalitarismustheorien sieht er den Mangel, daß sie die am Faschismus und Nationalsozialismus erarbeiteten Kriterien auf die kommunistischen Gesellschaften rückübertragen. Der Begriff des Totalitarismus dürfte nicht auf bestimmte Merkmale des politischen und Gesellschaftssystems verkürzt werden, da er dadurch viel zu unspezifisch und zu eng sei. Er müsse vielmehr mit dem Versuch bezeichnet werden, „von einem einzig leitenden Zentrum her Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Erziehung und schließlich auch das individuelle Leben der einzelnen Bürger, kurzum das Totum eines Gemeinwesens zu erfassen und zu gestalten“. Seiner Auffassung nach läßt sich der Begriff des Totalitarismus dadurch an den kommunistischen Regimen des 20. Jahrhunderts in seiner vollen Bedeutung entfalten, während die faschistischen Diktaturen diesem Begriff nur zum Teil entsprochen haben. Im wahnhaften, utopischen Ziel „einer Säuberung und Homogenisierung der Gesellschaft nach politischen, sozialen oder rassistischen Kriterien besteht die Singularität des Stalinismus wie des Nationalsozialismus, die sie von allen anderen bis dahin bekannten Regimen und Gesellschaftsformationen“ abheben, dabei handele es sich um Parallelität und nicht Identität, um zwei Extreme der Geschichte unseres Jahrhunderts. Der nationalsozialistische Terror wäre selektiv gewesen, zielte in eine bestimmte Richtung, während der stalinistische Massenterror total und schrankenlos war. Kommunistischer Terror gilt ihm nicht als „Exzeß“, sondern als „logische Konsequenz“ des „von Menschen unternommenen Versuchs, die gegebene alte Gesellschaft in toto umzumodeln und ihre Subjekte in eine neue, gebundene Ordnung zu überführen“.

Einige der Thesen Koenens zur sowjetischen Entwicklung seien kurz benannt: Er sieht in der Oktoberrevolution 1917 eine historische Möglichkeit, aber keine Notwendigkeit, er wertet sie zugleich als die „Urkatastrophe“ für Rußland. Der Bürgerkrieg stellt sich ihm als Beginn der „Säuberung von Schädlingen“ dar, der Terror habe sich faktisch gegen alle gerichtet. Nach der Etablierung der Bolschewiki als Machtpartei habe sich die Parteidoktrin zur Staatsdoktrin (Reichsdoktrin) formiert. Zu kurz greift wohl die Begründung für den großen Terror, die er im Bestreben der Stalinschen Führung, alle Zentren einer möglichen Gegenmacht prophylaktisch zu eliminieren, in innenpolitischen Gründen sucht, nach außen hingegen habe man sich sehr sicher gefühlt. Mit Stalins Tod habe der Massenterror in der Sowjetunion geendet, die weitere Geschichte der Sowjetunion wäre eine dauernde posttotalitäre Phase, sie könne jedoch nicht ausschließlich als poststalinistisch oder posttotalitär beschrieben werden. Die Perestroika habe schließlich zu der neoleninistischen Illusion geführt, den Umbau nach einem großen, einheitlichen, vom Zentrum strategisch und operativ geleiteten Plan zu führen. Insgesamt vermag Koenen der Literatur zur Sowjetunion kaum Neues an Fakten noch an Bewertungen hinzufügen. Des öfteren finden sich Ungenauigkeiten in den Angaben und Einschätzungen (so behauptet er z. B. in den Passagen über die Komintern, sie habe Faschismus und Antibolschewismus gleichgesetzt, die Wendung des 7. Kominternkongresses zur Volksfrontpolitik wäre überraschend gekommen).

Zu den Kernfragen seines Themas, die er mit dem Band beantworten will, rechnet Koenen: Was waren historische Wurzeln und Bedingungen für den Kommunismus? War er wirklich eine Revolution oder Involution, gar Reaktion? War der Kommunismus progressiv oder nicht eher regressiv? War er modern oder antimodern, oder beides? Ging es um Egalitarismus oder um Elitismus? Um Internationalismus oder neuen Inter-Nationalismus? In seinen Antworten tendiert er, manchmal mit einem unentschiedenen Sowohl-Als-auch, durchweg zum zweiten Teil der Frage. Den kommunistischen Versuch, die Gesellschaft radikal umzugestalten, wertet er nicht als Revolution, sondern als „Involution“ im Sinne der „Rückbildung“. Die kommunistischen Revolutionen und Staaten wären „modern-archaische Reaktionen“ auf Globalisierung, Pluralisierung und Individualisierung des Lebens, die „die eigentliche Weltrevolution des Jahrhunderts“ gewesen seien. Der Kommunismus sei in keinem Fall als Modernisierung einer rückständigen oder wenig entwickelten Gsellschaft zu bezeichnen, sein Ergebnis wäre stets eine Senkung des bereits erreichten Grades der arbeitsteiligen Vergesellschaftung und Differenzierung und damit statt Progression eine tiefe Regression. Der Bolschewismus verkörperte mehr einen russischen Messianismus als proletarischen Internationalismus, dieser wäre in seinen jeweiligen Ausprägungen (Leninismus, Stalinismus oder Maoismus) nur die „höchste Form eines nationalen Suprematismus und Hegemonismus“. Eine klare Antwort auf Koenens selbst gestellte Frage, warum der Kommunismus jahrzehntelang als attraktiv galt, bleibt aus. Seine verschieden variierte Leitformel, Kommunismus sei die „Utopie einer radikalen Säuberung“, geht insgesamt nicht auf.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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