Eine Rezension von Bernd Grabowski


Geschichte von unten

Annett Gröschner: Jeder hat sein Stück Berlin gekriegt

Geschichten vom Prenzlauer Berg.

Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1998, 297 S.

 

Danke, Annett Gröschner, danke für dieses Buch. Du hast mir elf Geschichtslektionen über die letzten sechzig, siebzig Jahre vermittelt, wie sie wohl kein Geschichtsprofessor anschaulicher und sachkundiger hätte halten können. Selbstbewußt erklärt die gesprächigste der Zeitzeugen auch: „Mir braucht keener wat erzählen von Politik und weißen Käse. Und von die Deutschen. Braucht mir keener.“ Gerda, etwa 1932 geboren, kennt das Leben aus dem Effeff mit seinen Höhen und Tiefen, hat Faschismus, Krieg, DDR und Wende durchlebt, ihr kann man nichts vormachen. Es sprudelt förmlich aus ihr heraus, alles Wesentliche, woran sie sich erinnern kann, teilt sie in einem fast nicht zu stoppenden Redefluß mit: Judenverfolgung, Fliegerangriffe, Ausbombung, Kriegsende, Hungersnot, Besatzung, wie es mit den Russen war und dann in der geteilten Stadt ...

So wie Gerda läßt Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, seit 1983 in Prenzlauer Berg zu Hause, auch die anderen zwölf Senioren über ihr Alltagsleben in diesem Berliner Stadtbezirk sprechen (der Untertitel müßte daher richtig heißen: „Geschichten von Prenzlauer Berg“). Interessant ist, wie sich Welt- und Nationalgeschichte im Schicksal, in den Handlungen und Ansichten eines einzelnen widerspiegeln. Ungeschminkt erzählt, setzen sich die Berichte zusammen zu einer umfassenden, facettenreichen Geschichte von unten. Denn es sind Menschen, die seinerzeit aktiv in den Naziorganisationen mitwirkten, wie auch entschiedene Hitlergegner, ehemalige SED-Mitglieder und solche, die vom DDR-Sozialismus nicht viel hielten, einfache Arbeiter und schlecht ausgebildete Angestellte, Künstler und Wissenschaftler, die ihr Leben hier zu Protokoll gaben. Die Historie hat nicht nur Hand und Fuß bekommen, sonden auch Namen und Gesicht.

Es ist nicht zu spüren, daß die aufgezeichneten Gespräche „bearbeitet, umstrukturiert und verfremdet“ wurden, denn sie atmen alle frische Ursprünglichkeit. Wie im Vorwort versprochen, ist es also gelungen, „bei aller Literarisierung den Ton der Erzählung unverfälscht zu lassen“ - ein Beleg für Gröschners Meisterschaft.

Daß die „oral history“ zwangsläufig mehr oder weniger in Berliner Sprechweise notiert ist, öfter der rote Faden verlorengeht, alles durch die subjektive Brille und aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen wird, Wichtiges und Belangloses gleichwertig nebeneinander stehen, vielleicht auch mal eine Ungenauigkeit, ein Irrtum, eine Übertreibung unterläuft - alles das gehört dazu und schmälert nicht den Wert der gedruckten Interviews, nicht das Verdienst, die Berliner mit den längsten Erfahrungen zum Sprechen ermuntert zu haben. Wo sind denn sonst Befindlichkeiten und Details, Wirkungen der großen Politik auf das Leben der kleinen Leute nachzulesen?

Im Anhang sind ein paar Begriffe und Formulierungen erklärt, damit auch Leser ohne Berlin-Kenntnisse und DDR-Vergangenheit die Texte verstehen können. In dieses Glossar hätten aber auch jene Namen von Straßen und Plätzen aufgenommen werden sollen, die inzwischen umbenannt sind.

Unangenehm und auffällig in dem sonst sauber redigierten Buch sind Falschschreibungen von General Weidling, dem letzten Wehrmachtsbefehlshaber von Berlin, des Senefelderplatzes und des Berliner Vorortes Königs Wusterhausen. Denn sie lassen den Verdacht aufkommen, daß nicht orthographische Unsicherheit oder Nachlässigkeit, sondern sachliche Unkenntnis zu den Fehlern geführt hat.

Eigentlich hatte alles ganz anders angefangen: Annett Gröschner wollte in Senioreneinrichtungen Literaturlesungen organisieren. Aber Heimbewohner sagten ihr, sie würden lieber selbst ihre eigenen Geschichten zum besten geben. Manche hatten darüber noch zu niemandem gesprochen, sogar die eigenen Kinder wollten davon nichts wissen. So hat sich die junge Germanistin die Geschichten der alten Leute diktieren lassen, war dann und ist fasziniert von der Kraft ihrer Erzählungen. Diese Faszination stellt sich nun auch beim Lesen ein, beim Lesen von Geschichten, die sonst ungehört mit ins Grab genommen oder nur in wenige Ohren gelangt wären. Nochmals danke, Annett Gröschner, danke den auskunftsfreudigen Senioren von Prenzlauer Berg.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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