Eine Rezension von Kurt Wernicke


Ein weiterer Band eines wichtigen Nachschlagewerkes

Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE) Band 9. Herausgegeben von Walther Killy (†) und Rudolf Vierhaus.

K. G. Saur Verlag, München 1998, 695 S.

 

Das auf zwölf Bände angelegte Gesamtunternehmen eines neuen biographischen Nachschlagewerkes für den deutschen Sprachraum macht schnelle Fortschritte und nähert sich seinem absehbaren Ende - vielleicht gar noch in diesem Jahrtausend? Das schon in unseren vorangegangenen, den bisherigen Bänden gewidmeten Besprechungen ausgesprochene Lob des weiten räumlichen Ausgreifens bei der Wahl des Bezugsgebietes kann - fast unnötig zu sagen - auch bei diesem 9. Band wieder festgestellt werden: Neben Deutschen sind Deutschösterreicher, Deutschböhmen, Deutschschweizer, Siebenbürger Sachsen, Südtiroler und sogar vereinzelt Baltendeutsche anzutreffen. Fließend ist die Grenze bei Deutschamerikanern, und das Deutsch-Amerikanisches Conversationslexikon (Hrsg. Alexander Schem, Bd. 1-11, New York 1869-74) taucht dann auch bei den Quellen nach wie vor nicht auf (wie leider auch nicht Meyers Neues Lexikon, Bibliographisches Institut Leipzig, Bd. 1-8, 1961-1964; sonst wäre nicht auf den Zeichner Max Schwimmer (1895-1960) verzichtet worden). Ob der in Bayern gepflegte Stolz auf die bayerische Herkunft des Schöpfers der „blue jeans“ den Münchener Verlag allerdings wirklich dazu berechtigt, Levi Strauss (geboren 1829 als Löb Strauß in Buttenheim in Oberfranken, aber schon 18jährig nach Amerika ausgewandert) in die Enzyklopädie aufzunehmen, sei dahingestellt. Dagegen vermißt der Rezensent hier und da ein wenig Konsequenz; die Auswahl aufzunehmender Personen in ein solches Unternehmen wie das vorliegende ist natürlich in jedem Fall ein diskussionswürdiges Unterfangen und bietet ein weites Feld zwischen milder berechtigter und wütend polemischer, ja selbst bis zur Unsachlichkeit sich steigernder Kritik. Deshalb soll nicht grundsätzlich um die Auswahlkriterien gestritten werden. Dennoch: daß der Berlin-Historiker schmerzlich das Manko empfindet, daß drei Stubenrauchs aus dem bayerisch-österreichischen Raum vorkommen, aber der Landrat von Teltow, Berliner Polizeipräsident und eigentliche Schöpfer des Teltowkanals, Ernst (v.) Stubenrauch (1853-1909), mit Schweigen übergangen wird - das kann noch mit der subjektiven Überbewertung aus Berliner Lokalstolz erklärt werden: Was ist schon vor dem gesamten deutschen Sprachraum der Teltowkanal oder ein Berliner Polizeipräsident (obwohl Johannes Stumm, westberliner Polizeipräsident 1948-1962, vorkommt)?? Beim Namen Speck von Sternburg erscheint der Sohn, ein recht unbedeutender Diplomat - aber der Vater, der als Unternehmer den Namen adelte und mit der Vererbung seiner Kunstsammlung den Fundus für Leipzigs bedeutendes Städtisches Museum für bildende Kunst legte, wird nicht gewürdigt. Wenn der Germanist Heinz Stolte auftaucht, schmerzt die Abwesenheit des Germanisten Werner Simon sehr, zumal letzterer am Nachtrag zu Grimms „Deutschem Wörterbuch“ (Buchstabe C) mitwirkte. Unternehmer sind reichlich vertreten - aber warum wird dann nicht bei Stolte der Erfinder der legendären Stolte-Dielen aufgenommen, sondern der eher periphere Germanist (dessen erwähnte Berufung an die Berliner Humboldt-Universität nur ein halbjähriges Zwischenspiel war)? Da anerkennenswert viele Aktivisten des Widerstands gegen das NS-Regime - aus dessen gesamter Palette, was auch nicht immer selbstverständlich schien- aufgenommen wurden, schmerzt die vergebliche Suche nach der Tänzerin Oda Schottmüller, die zum Kreis der „Roten Kapelle“ gehörte, allerdings um so mehr. Hermann Webers Artikel zu Ernst Thälmann besticht andererseits als ein Kabinettstück an sachlich-unpolemischer Ausgewogenheit.

Der Historiker sucht natürlich in einem solchen Nachschlagewerk immer etwas voreingenommen nach dem Raum, den man seinen Berufskollegen gewidmet hat. Selbst bei Anlegung eines strengen Maßstabs muß zugestanden werden, daß der Geschichtsbeflissene wegen der Berücksichtigung der eigenen Zunft nicht unzufrieden sein darf: Neben den großen Namen der Historiographie - in diesem 9. Bd. sind immerhin Johannes Schultze, Heinrich Sproemberg, Heinrich v. Srbik, Rudolf Stadelmann, Karl Stadler, Alfred Stern, Jakob Strieder, Heinrich v. Sybel vertreten, Namen, die schon der Geschichtsstudent durch ihre oft genug zu Standardwerken geronnenen, wenn auch nicht immer unumstrittenen Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen hat - ist eine erkleckliche Anzahl Historiker der - sit venia verbo! - zweiten Reihe aufgenommen worden. Zwischen Rudolf Schmidt (1875-1943; Historiker der Gutsherrschaften im Kreis Niederbarnim), Georg Steinhausen (1866-1933; seine kulturgeschichtlichen Bilderbücher werden noch immer gern benutzt), Joachim Streisand (1920-1980; er legte als erster eine logisch geschlossene einbändige Deutsche Geschichte in der DDR vor), Karl Sudhoff (1853-1938; ihm verdankt die Medizingeschichte ein wissenschaftlich exaktes Paracelsus-Bild), Michael Tangl (1861-1921; Meister des Entzifferns tachygraphischer [schriftgekürzter] mittelalterlicher Originaltexte, ohne das die „Monumenta Germaniae Historica“ nicht zu edieren gewesen wären) und Johannes Textor (1582-1626; er publizierte die erste Geschichte von Haus und Herrschaft Nassau) ist eine erhebliche Anzahl derer vertreten, die durch ihr Wirken den Fortschritt in Erforschung und Darstellung der Geschichte befördert haben. Bei manchem, wie z.B. bei Franz Schnabel, fragt man sich allerdings, ob er denn zwischen 1933 und 1945 keine Veröffentlichungen aufzuweisen hat und weshalb sie verschwiegen werden. Reinhold Schneider (1903-1958) wird in Leistung und Wirkung als prägender Geschichtsphilosoph zweifellos allzu überhöht dargestellt, wahrscheinlich, um ihn in die Nähe der um die gut gewürdigten Geschwister Scholl tätigen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ zu rücken. Bei Hans-Joachim Schoeps (1909-1980) ist zu hinterfragen, ob seine Charakteristik als „Apologet der Hohenzollern-Monarchie“ so erratisch stehenbleiben kann.

Gegenüber der Zahl der im Bd. versammelten Musiker, Sänger und Komponisten bleibt die Anzahl der gewürdigten Historiker allerdings weit zurück; es scheint, als ob die 16 Bände der 1976 abgeschlossenen Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“ einen etwas überdimensionierten Einfluß auf die DBE zu nehmen im Begriff sind (übrigens - gehört Gasparo Spontini wirklich in ein Sammelwerk von deutschen Biographien?). Sehr anzuerkennenn ist der Mut der Herausgeber, auch gelegentlich zuzugeben, daß man bei der Forschungsarbeit eine Niederlage einstecken mußte: Wenn ein Todesdatum für einen nur zeitweilig Prominenten nicht zu ermitteln war, wird nicht phantasiert, sondern mitgeteit: „† n. e.“ (Todesdatum nicht ermittelt).

Da die Herausgeber eigens um Hinweise bei Unklarheiten bitten, seien dazu einige Bemerkungen gemacht. Der Rezensent kann nicht einsehen, weshalb bei Todesdaten zwischen 1949 und 1990 in Berlin Dahingeschiedener zum einen nach West- (Schmidt-Rottluff, Karl 1976) bzw. Ost-Berlin (Schnog, Karl 1964) unterschieden wird, zum anderen aber (Schmidt, Waldemar 1975; Schomburgk, Hans 1967) einfach - und wohl zu Recht - Berlin genannt wird. Der Pädagoge Georg Schmiedl ist nicht 1829, sondern 1929 verstorben. Arthur Schnabel kann nicht 1882 in der „Woiwodschaft“ Oppeln geboren sein, denn Oppeln war damals allenfalls „Regierungsbezirk“. Und der Artikel zu Louise Schroeder bringt die Politikerin sehr richtig im Mai 1947 auf den Posten des amtierenden Berliner OB, gibt aber den Grund dafür falsch an: Ernst Reuter ist eben nicht im August 1948, sondern im Mai 1947 der Antritt dieser Funktion durch sowjetische Intervention in der Alliierten Kommandantur verwehrt worden!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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