Eine Rezension von Helmut Hirsch


„Adieu, der Genius sey Ihnen hold“

Mein edler, theurer Großherzog
Briefwechsel zwischen Hans Christian Andersen und Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach.

Herausgegeben von Ivy York Möller-Christensen und Ernst Möller Christensen.

Wallstein Verlag, Göttingen 1998, 384 S.

 

In der Kindheit liest man Märchen, die man nie wieder vergißt. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“, „Der Wassertropfen“, „Die roten Schuhe“, „Der Tannenbaum“, „Des Kaisers neue Kleider“, „Der standhafte Zinnsoldat“ und „Die kleine Seejungfrau“. Daß es Märchen des dänischen Dichters Hans Christian Andersen sind, erfährt man erst später. Viel später auch hört der Leser, daß dieser Dichter auch Romane, Dramen und Gedichte geschrieben hat. Dazu ein „Bilderbuch ohne Bilder“ und ein Buch mit dem seltsam klingenden Titel Reiseschatten. Das klingt nach Märchen, ist fast auch eins, vor allem aber kündet es von Rast und Reise des Dichters Andersen. Als seine Schule hat er einmal das Leben und die Welt benannt: „Ich habe die Gabe aufzufassen und darzustellen, aber ich muß meine Werkstatt haben, und das heißt, ich muß mich in der Welt herumtreiben.“

Herumgetrieben in der Welt hat sich Andersen ausgiebig. Er lernte 29 Länder kennen. Deutschland vor allem lockte ihn immer wieder, und so ist auch sein erstes Reiseerlebnisbuch „Reiseschatten von einem Ausflug nach dem Harz, der Sächsischen Schweiz im Sommer 1831“ diesem Land gewidmet. Machte er zunächst die Bekanntschaft der Dichter Tieck und Chamisso, kamen später auch Vertreter der Höfe hinzu. Im Sommer 1844 weilt Andersen in Thüringen, sieht während einer Theateraufführung auch Erbherzog Carl Alexander.

Es ist wie Liebe auf den ersten Blick. Ins Tagebuch schreibt der Dichter: „Der junge Herzog war höchst liebenswürdig, ich könnte ihn zu meinem Freunde wählen, wäre er nicht ein Herzog.“ Doch es kommt rasch zu einer Begegnung, beide entdecken ihre Liebe zu den Märchen, zur Natur, zur träumerischen Anhänglichkeit. So entsteht eine Freundschaft, die Jahrzehnte halten wird, unterbrochen von Reisepausen oder vom deutsch-dänischen Krieg 1848/49.

Die Briefe, die hin und her gehen, zeugen von einer geradezu überschwenglichen Herzlichkeit, von einer Zuneigung, die an Euphorie mitunter etwas zuviel des Guten sein mag für heutige Leser. Ausgetauscht werden Mühsal und Freuden des Alltags. Der eine berichtet aus seiner Dichterwerkstatt, der andere von seinen Hofangelegenheiten. Im Mittelpunkt stehen zumeist Beobachtungen und Erlebnisse mit Menschen, Freunden in nah und fern. Sehr gern schildern beide auch ihre Natureindrücke, und so entstehen schöne und wechselvolle Bilder aus Thüringen und Dänemark. Erstaunlich ist die intensive Brief-fern-Liebe der beiden über weite Strecken hinweg. Die Briefe bersten davon. Andersen schreibt am 18. April 1845 zum Schluß seines Briefes: „Möge der Sommer Ihnen allen Sonnenschein ins Herz und Gemüt bringen. Zu dem Glück meines Lebens und zu dem, was es so sehr das Gepräge des Märchens gibt, rechne ich die große Milde und Gnade, die ich in Weimar gefunden habe, das Herz welches in Eu. Hoheit mir so liebreich entgegengekommen ist...“

Wann immer Andersen nach Weimar kommt, sieht man sich, ansonsten werden lange Briefe geschrieben. Die Gefühlsfrequenz beider Männer liegt lange Jahre dicht beieinander. Zunächst scheint alles ohne Konflikte zu sein, Andersen betet den zukünftigen Großherzog an, er ist ihm ein „Beweis für das Edle der Menschheit“, an die er immer mehr glauben muß: „Durch Sie liebe und verstehe ich das Edle in Fürsten, die in unserer Zeit gar zu streng beurteilt werden.“ Carl Alexander versucht, der unvoreingenommene Freund zu sein, nicht der Herrscher soll den Beziehungen im Wege stehen. Und da er weiß, daß es da unvermeidlich Spannungen geben kann, schreibt er Andersen am 5. Oktober 1846: „Wie tief Sie mich rühren und wie aufrichtig Sie mich durch die neuen Beweise Ihrer Freundschaft erfreuen, vermag ich kaum auszudrücken, denn das wahre Gefühl fühlt mehr als es aussprechen kann... Seien Sie versichert, daß es stets mein sehr aufrichtiges und herzliches Streben sein wird, Ihnen zu beweisen, daß Sie mir vertrauen können, daß Sie sich in mir nicht verrechnen.“ Daß Carl Alexan der die hypochondrischen Attacken, denen der Däne zeitlebens ausgesetzt war, bemerkte und ernst nahm, zeigt der Rat, der dieser Bekundung folgt: „Ihr Leiden habe ich Ihnen angesehen; nehmen Sie sich in acht, die jetzige Temperatur ist gefährlich, namentlich für Nervenleidende.“ Noch eine dritte Wesentlichkeit enthält dieser vielstimmige Brief. Carl Alexander spricht von seinem Amt, seiner Pflicht am Hof, und so ist „das bisweilen wilde Leben“, das er führt, nicht so sehr nach seinem Geschmack, dafür leider „Notwendigkeit der Verhältnisse, der ich mich beugen muß, öfters noch der Vergleich mit - ich gestehe Ihnen offen und Ihnen allein - den Zeiten und Erinnerungen meines Großvaters, der mich antreibt. Sie verstehen mich, es bedarf also keiner weiteren Erläuterung.“

So ist das Bild gezeichnet, über alle Sympathien hinweg weht der Geist der Vorväter, der Kovention, auch der des Zwangs. Bei Andersen hingegen ist es, wenn vom Zwang gesprochen werden kann, schon eher der Schreibzwang. Aber ins liebevolle Verhältnis zu Carl Alexander mischt sich auch der Standesunterschied ein. Der Brief des Dichters vom 19. November 1846 berichtet ausführlich von der Arbeit an der Gesamtausgabe, dazwischen aber die Bemerkung: „Verzeihen Sie, ich vergesse die Königliche Hoheit, Rang und Stand, wenn ich lebe in meine Herzens-Welt hinein - in der äußeren Welt kann ich es nie vergessen.“

Als stünde da ein schier unüberwindliches Hindernis im Wege, verweist Andersen immer wieder auf den „künftigen Großherzog“, der seine Freund ist. Carl Alexander sieht diesen Zwiespalt, den Hans Christian Andersen in sich trägt. Am 5. Dezember 1848 versucht er, diese Bedenken beiseite zu räumen: „Sie brauchen mich nicht von dem Rang getrennt zu wünschen, den ich trage; Sie lieben mich, denke ich, um meiner selbst, nicht um meines Ranges willen...“

Es liest sich qualvoll, wie Andersen mit diesem Komplex ringt. Er zitiert einmal sein „Märchen von der Glocke“: „Es ist der arme Knabe im Walde mit dem Fürst; Hand in Hand, Auge in Auge erzählt er dem edlen Manne seine Leiden und Freuden.“ So auch hier, im Briefwechsel zwischen Großherzog Carl Alexander und Andersen. Man kann darüber rätseln, es bleibt aber dabei, Andersen weiß, daß es ihm als Dichter „märchenhaft gut“ geht, schränkt aber ein: „Vielleicht wäre das Sterben eben jetzt glücklich! aber ich liebe das Leben, ich liebe die Menschen! - ach, ich möchte so gerne noch mal nach Weimar; zu Ihnen, mein innigster, geliebter hoher Herr! Ach wenn Sie doch kein Fürst wären!“

Liest man in Andersens Märchen und läßt man die euphorisch-zwiespältigen Flocken dieses Wirbels ganz ruhig sich verteilen, wird sich die Einsicht einstellen, daß auch Koketterie im Spiele war. Andersen, es steht oft versteckt auch in diesen Briefen, wußte, welches Spiel er mit den Fürsten der Welt spielte. Oft und gern liest er seine Märchen nicht nur dem dänischen König und der Königin vor, auch an anderen Höfen macht der Vielreisende märchenhafte Erfahrungen. Er läßt sich umgarnen, wartet auf Empfehlungen, auch auf Orden. Der dänische König amüsiert sich besonders über die humoristischen und satirischen Märchen: „Er ist mir so gnädig und gut gestimmt und hat in diesen Tagen aus eigenem Trieb und Gnade die Summe vergrößert, die ich erhalten habe.“

Andersen weiß um seine große Wirkung. Und er pflegt sie. Für jedes Lächeln ein Märchen, es gelang ihm. Daß die Märchen auch noch gut wurden, ist Grund, sich auch heute noch über diesen heiteren Mann zu freuen. Das Glückskind, als das er sich sah, war freilich nicht immer ausgewogen. Das ewige „Salon-Leben“ greift immer wieder die Nerven an, so wechselt er periodisch seine Orte, Deutschland, Italien, England und so weiter.

Der dänische Literaturhistoriker Georg Brandes hat Andersen einmal das „gehetzte Tier in der dänischen Literatur“ genannt. Eine Übertreibung ist das augenscheinlich nicht gewesen. Denn auch in diesem Briefwechsel mit Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach wirkt der Märchendichter wie ein unruhevoll getriebener Geist. Er hatte auch gar zu viele Kontakte. Immer gab er sich ganz und intensiv. Heinrich Heine berichtet über ein Gespräch mit Hans Christian Andersen, der ihn in Paris besuchte: „Er kam mir vor wie ein Schneider; er sieht auch wirklich ganz so aus. Er ist ein hagerer Mann mit einem hohlen, eingefallenen Gesichte und verrät in seinem äußeren Anstande ein ängstliches, devotes Benehmen, so wie die Fürsten es gern haben. Daher hat Andersen auch bei allen Fürsten eine so glänzende Aufnahme gefunden. Er repräsentierte vollkommen die Dichter, wie die Fürsten sie gern haben wollen.“

Ein scharfes Urteil, aber nicht ganz grundlos. Denn daß der Ehrgeiz den Märchendichter von Hof zu Hof führte, ist auch in diesem Briefwechsel nachzulesen. Ist er gerade an einem Hof, berichtet er nach Weimar, wie sehr der zuhörende Monarch seine Märchen liebt. Und doch ist dies nur die halbe Wahrheit, in den Märchen steht die andere Hälfte, vielleicht, ganz gewiß die gewichtigere. Denn in den Märchen erscheinen Könige im Schlafrock und mit Pantoffeln, sind Könige ungebildet, herzlos, geldgierig und haben keine eigene Meinung. Auch Carl Alexander wird mit einem Märchen auf die Probe gestellt. Längst ist die Freundschaft zum Stillstand gekommen, hat sich die Utopie Andersens nicht verwirklicht. Die Wege gehen auseinander. Da schreibt er das Märchen „Des Hagestolzen Nachtmütze“, schickt es nach Weimar, bittet den Großherzog um seine Meinung. Doch dieser hüllt sich in Schweigen, kommentiert die Geschichte, in der es um Liebe und ihren Verlust geht, um Einsamkeit und unerfüllte Hoffnungen, Schmerz und Leid, mit keinem Wort.

Der Briefwechsel hat viele wolkig-blumige Wiederholungen, aber gleichzeitig bietet er auch überraschende Vielseitigkeit. Denn mit dem Nachlassen der beiderseitigen Freundschaft, in vielen Abstufungen erkennbar, wird der Blick freier für das, was zwischen den Briefpartnern nicht ganz so innig-anhaltend sein konnte. Zugleich verändert sich der Mensch, auch Carl Alexander und auch Hans Christian Andersen. Carl Alexander berichtet aus Berlin, daß er im Theater „die ganze Gewalt der Kontraste dieser Erde“ erlebte. Schwärmt er nicht mehr so sehr von den Märchen, dann um so mehr von der thüringischen Landschaft. Die ihn vereinnahmt, denn er ist ja regierender Großherzog, kümmert sich aber sehr um die Kultur. Seinem Volk und seinem Großvater (Goethes Freund und Mäzen) zuliebe. Da sind die Kunstschätze aus dem Nachlaß seines Schwiegervaters zu bestaunen, darunter Zeichnungen von Raffael, Michelangelo, Rubens, Leonardo. Dann bereitet er die Denkmale der Großen von Weimar vor, Goethe-Schiller-Wieland. Auch um die Gründung der Musikschule ist er besorgt. Das alles berichtet er Andersen, legt schnell noch ein Foto bei, „damit Sie wissen, wie ich jetzt gerade aussehe. / Adieu, der Genius sey Ihnen hold.“

Ganz bricht der Kontakt zwischen dem Dichter und dem Großherzog nicht ab, und was man sich noch immer mitzuteilen hat, liegt nicht außerhalb der Erfahrungswelten: Der eine berichtet weiterhin von pragmatischen Hof-Arbeiten, der andere gibt Einblicke in die phantastischen Erfindungswelten neuer Märchen. Es scheint, als komme jeder immer wieder und mit zunehmendem Alter noch verstärkt auf sich selbst und seinen Ursprungsort zurück. Der Dichter, armer Sohn eines Schuhmachers und einer Waschfrau, bleibt auf der großen Insel seiner Phantasie. Den Großherzog sieht man nun wieder umgeben von seinen Verwandten, jeder also eingebettet in sein „Reich“.

Dieser nicht immer spannende Briefwechsel zweier sehr unterschiedlicher Menschen ist auch eine wunderbare psychologische Studie. Er zeigt das mögliche, das wirkliche und zugleich das unmögliche Einverständnis zwischen Kunst und Macht, die problematische Liebe oder Freundschaft zwischen partiell ähnlichen, im Grunde aber doch ungleichen Temperamenten. Euphorie und feinsilbige Empfindelei sind auf beiden Seiten manchmal etwas überzogen, doch die Herausgeber wollten Auslassungen vermeiden und nahmen dies in Kauf. Dennoch kommen im Gesamt-Konvolut der Briefe immer wieder ein paar neue Töne hinzu. Sie signalisieren anwachsende Zweifel, Mißmut, Entfremdung und Verstimmung. Der Leser hat mit dieser Ausgabe allemal ein überraschendes, ein vielstimmig authentisches Zeugnis in der Hand. Das Bild einer Männer-Freundschaft des 19. Jahrhunderts. Wie es seinerzeit an den europäischen Klein-Höfen zuging, wie Dichter erwartungsvoll empfangen und umsorgt wurden, das alles kann man hier ausführlich und in den trefflichsten Farben geschildert bewundern oder, wo es einmal zuviel des Guten wird, auch belächeln. Nie erlahmt bei nachlassender Korrespondenz und vergehender Freundschaft die jeweilige Lust an neuen Lebens-Projekten. Dies alles erstmals zusammengestellt und mustergültig ediert zu haben ist das Verdienst der kenntnisreichen Herausgeber Ivy York Möller-Christensen und Ernst Möller-Christensen. Manchmal hätte man sich für die Kommentare noch etwas mehr hintergründigen Text zur Erhellung gewünscht. Wer es genauer wissen will, kommt nicht umhin, bisweilen auch selbst zu enträtseln oder in historische Lexika zu blicken. Was einem aktiven Leser nie unangenehm wird.

Sehr gut sind die dem Buch beigegebenen Stiche. Dadurch bekommt der Leser (und Betrachter) ein anschauliches Bild der erwähnten Orte auf der Landkarte dieser Korrespondenz. Liebe- und verständnisvoll ist das Nachwort geschrieben. Mitunter etwas zaghaft gegenüber den spielerisch-märchenhaften Ideen Andersens. Vielleicht aus zu großer Verehrung.

Hier liegt ein Buch aus dem Wallstein Verlag in Göttingen vor, das auch besonders angenehm dadurch auffällt, daß es die Originalität der alten Schreibweisen nicht verändert hat. Doch um dies recht zu schätzen, bedarf es vieler Erfahrungen jenseits aller alt- und neumodischen Späße orthographischer Reformisten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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