Eine Rezension von Karla Kliche


Ein gelungenes Stück „Lebenshilfe“-Literatur

Serge Tisseron: Die verbotene Tür
Familiengeheimnisse und wie man mit ihnen umgeht.

Aus dem Französischen von Inge Leipold.

Verlag Antje Kunstmann, München 1998, 152 S.

 

Der Autor, Psychiater und Psychoanalytiker in Paris, empfiehlt sein Buch einem ganz bestimmten Adressatenkreis: „Wenn Sie selber ... ein ... [Familien-]Geheimnis hüten oder vermuten, Opfer eines Ihnen verschwiegenen [Familien-]Geheimnisses zu sein, dann sollten Sie dieses Buch lesen.“

Das Problem dabei ist allerdings, daß pathogene psychische Auswirkungen (das besagt „Opfer“) solcher Geheimnisse häufig gar keinen unmittelbar erkennbaren Bezug zu diesen haben, von dem Betroffenen also gar nicht erkannt werden können. Insofern sollten auch diejenigen angesprochen sein, die als Außenstehende um Geheimnisse wissen - auch wenn sie familiären Tabus unterliegen -, um Betroffene auf diesen Band aufmerksam zu machen.

Und auf einen entscheidenden Unterschied sei gleich eingangs hingewiesen: „Geheimnisse sind etwas Großartiges. Sie schützen unsere psychische und physische Integrität, unser Privatleben und das der Menschen, die wir lieben.“ So oder ähnlich betont der Autor immer wieder die Alltäglichkeit der Existenz von Geheimnissen. Diese aber sind grundsätzlich unterschieden von dem „Geheimnis als psychischem Problem“, dem „pathogenen Geheimnis“, das er deshalb abgrenzend auch häufig als „Geheimes“ bezeichnet.

Welcher Art sind solche Geheimnisse? Eine Reihe derjenigen, die er benennt oder über Beispiele vermittelt, sind z. B. uneheliche Geburt, Scheidung, Zweitehe, Adoption, Homosexualität in der Genealogie einer Familie, also Sachverhalte, über die sich in den letzten Jahrzehnten - wenn auch regional und in sozialen Milieus in unterschiedlichen Graden - die gesellschaftlichen Moralvorstellungen gewandelt haben. Sie können aber durchaus noch heute virulent sein, da Familiengeheimnisse als Geheimes, dessen Inhalt dann meist gar nicht mehr zu definieren ist, über mehrere Generationen hinweg psychologisch wirksam werden. Andere solcher Geheimnisse sind die Umstände des Todes oder der Selbstmord eines Elternteils bzw. Vorfahren. Im Band nur mit einem Beispiel erwähnt, doch wohl von höchst aktueller Relevanz: die Arbeitslosigkeit eines Elternteils, meist des Vaters; desgleichen Aids, Drogenabhängigkeit oder auch Geburt nach künstlicher Befruchtung. Ein spezieller, da extremer Fall von Familiengeheimnis, auch wenn dies besser als Konsequenz von „Ungesagtem“ - da Unsagbarem - zu bezeichnen wäre, ist vor allem in den letzten Jahren in das öffentliche Bewußtsein getreten: die psychisch pathogenen Folgen bei Kindern und Kindeskindern von Überlebenden der Konzentrationslager. - Natürlich schreibt der französische Wissenschaftler nicht über ein „Familiengeheimnis“, dessen Inhalt noch als „IM-Tätigkeit eines Elternteils“ erkennbar ist; doch ist es verfehlt, in diesem Zusammenhang daran zu denken...?

Es wäre unverantwortlich, hier in Kurzfassung das Wirksamwerden des „Geheimen“ wiederzugeben. Gesagt sei nur in groben Zügen, worin das aufklärende Anliegen des Autors besteht. Da „Geheimes“ auf alle Fälle „durchsickert“, wie er schreibt, denn bei allem Mühen, es zu verbergen, nicht davon zu sprechen - aus Scham, aus Angst, aus mit der Erinnerung verbundenem Schmerz -, äußert es sich nonverbal: in Gestik, Mimik, unerklärlichen Reaktionen usw. Und Kinder in ihrer genauen Beobachtung der nächsten Angehörigen, besonders der Eltern, ahnen etwas, das ihnen nicht erklärt wird, wovon sie sich ausgeschlossen, für das sie sich gar schuldig fühlen... Und hier liegt der springende Punkt, dessen problematische Auswirkungen sich in der Regel mit dem Erwachsenwerden verfestigen - mit der Enthüllung des Geheimen ist es dann in der Regel nicht mehr getan - und sich derart an die nächste Generation und so weiter vermitteln.

Tisserons Anliegen ist deshalb, uns nahezubringen, daß es nie zu früh ist, zu Kindern über das zu sprechen, was die Eltern bzw. ein Elternteil bedrückt, auch wenn es ihnen schwerfällt (aus Schmerz, Scham, Angst), darüber zu reden, sie es anfangs nur stockend vermögen (es könnte dies übrigens durchaus ein erster Schritt sein, sich selbst von Eigenidealisierung und das Kind von Idealisierung der Eltern zu „kurieren“).

Auf populärwissenschaftliche Weise im besten Sinne des Wortes erläutert der Autor das Funktionieren bzw. Fehlfunktionieren der komplizierten psychischen Mechanismen. Dabei kommt er ohne das Fachvokabular des Psychologen bzw. Psychoanalytikers aus. Wo dies allerdings unumgehbar ist - wie im Falle von „Symbolisierung“ etwa - weiß er es äußerst anschaulich zu erklären. Er nutzt seinen Text auch nicht, sich mit anderen fachwissen-schaftlichen Positionen auseinanderzusetzen, kennzeichnet aber Differenzen etwa zu Freuds durchaus in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangenen Begriff von „Übertragung“ oder „Sublimierung“. Auch der Psychotherapeut wird nicht als Allwissender dargestellt, sondern als gemeinsam mit dem Patienten Suchender. Denn: In der Mehrzahl der Fälle kann das „Opfer“ eines Familiengeheimnisses sich allein nicht helfen. Durch das Buch aber könnte es darauf aufmerksam gemacht werden, daß ihm geholfen werden kann.

Alles in allem: ein gelungenes Stück „Lebenshilfe“-Literatur.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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