Eine Rezension von Ursula Reinhold


Erinnerungssplitter

Joachim Seyppel: Schlesischer Bahnhof

Erinnerungen.

Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1998, 223 S.

 

Joachim Seyppel legt hier keine Autobiographie vor, sondern mosaikartige Erinnerungssplitter aus Jahrzehnten seines bewegten Lebens. Unverkennbar verfolgt er die Absicht, über unser Jahrhundert Bilanzierendes zu sagen, im Wechsel von Orten und Lebensituationen, in Abbrüchen, Neuanfängen den chaotischen Spuren der Zeit nachzugehen. Am Schluß trägt er gar Hoffnungselemente zusammen für kommende Generationen. 1919 in Berlin-Steglitz geboren, ist Seyppel heute in der schreibenden Zunft beinahe der einzige Überlebende seiner Generation. Denn er gehört den wohl durch den Krieg am meisten dezimierten Jahrgängen an. Gegenüber wenig Älteren wie Heinrich Böll, Johannes Bobrowski (beide Jahrgang 1917), auch gegenüber wenig Jüngeren wie Franz Fühmann (Jg. 1922), Wolfdietrich Schnurre (Jg.1920); Erich Fried oder Peter Edel (beide Jg. 1921); nicht zu reden von dem schon 1947 verstorbenen, als Sprecher seiner Generation apostrophierten Wolfgang Borchert (Jg. 1921), hat er das Glück, daß er noch immer lebt. Überleben ist daher ein Thema seiner Erinnerungen, da vielen seiner Generationsgenossen nichts beschieden war als ein früher Tod. „Ein schöner Tod war ihrer aller Lebenslauf“ (S. 147) formuliert er sarkastisch. Nachvollziehbar wird, warum diese Generation so anfällig für existentialistische Philosophie mit der Interpretation des „Seins zum Tode“ hin wurde. Obwohl diese Ausgangsbasis bei Schnurre, Borchert, Andersch, Fühmann vergleichbar ist, fallen dann sofort die in Lebenserfahrung und geistiger Verarbeitung erheblichen Unterschiede ins Gewicht. Während Seyppel bei der Schopenhauerschen Version bleibt, gelingt anderen mit der Adaption der Sartreschen Prämisse von Entscheidungsfreiheit eine weiterführende Bearbeitung der durch den Krieg geprägten Generationserfahrung.

Seyppel gibt Erinnerungssplitter, die keinen Zusammenhang stiften als den Lebenszusammenhang des Schreibenden: Eingangs vermittelt er Erinnerungen aus dem Vater- Mutter-Leben, in deren eigener Sicht und Diktion. Authentische Eindrücke überliefert er aus seiner Steglitzer Großfamilie, die wohl zu Teilen als soziale Aufsteigerfamilie im damaligen Unterhaltungsgeschäft zu kategorisieren wäre. Seyppel zeichnet ihre Mitglieder lebendig in charakteristischen Umrissen, zeigt die Sippe auch politisch als bunt zusammengesetzt. Dagegen wird die Physiognomie des sozialdemokratischen Vaters wenig greifbar, welche Prägungen der Heranwachsende ihm verdankt, bleibt unklar. Im Kapitel III vermittelt Seyppel Einblicke in die Lebenswelt während der Nazi-Herrschaft, während der er zwischen 1939-43 studierte und promovierte. Er berichtet von Olympia und Schmalspur-Abitur, Jazz-Musik und Führerbegegnung, Studienbetrieb in den Fächern Germanistik, Philosophie und Theaterwissenschaft an der Friedrich-Wilhelm Universität in Berlin samt den Sonderheiten einiger Dozenten und Professoren. Ausführliche Erinnerungen gibt es an eine Reise nach Österreich und Jugoslawien kurz nach dem Anschluß Österreichs, vor dem Ausbruch des Krieges. Man merkt den Erinnerungen an, daß ihr Autor sich die Lebenslust seiner Jugend im Lichte späteren Wissens nicht abhanden kommen lassen will, sondern sie gegen vermeintliche spätere Besserwisser zu verteidigen trachtet. Das ist sein gutes Recht, aber mir greift er dabei einfach zu kurz. Jugendliche Unbeschwertheit und ablaufende Katastrophe, ja, das wäre das Thema. Man wünscht sich, mehr über die Schizo-phrenie der Zeit zu erfahren, in der er lebte, in der wir leben und noch leben werden. Auch die Erinnerungen an Krieg und Fronteinsatz, an Gefangenschaft und Nachkrieg fallen eher mariginal aus. Was der Rückblick auf den fünfzig Jahre zurückliegenden Krieg über die eigenen Motivationen damals erbringen kann, hat Dieter Wellershoff mit Der Ernstfall (1995) auf eindringliche Weise nahegebracht.

Über die Jahrzehnte nach dem Krieg berichtet Seyppel in den fünf folgenden Kapiteln, in denen er seine Lebensstationen skizziert. 1949-1961 Amerika; 1961-1972 Westberlin; 1973-1979 DDR, seither Hamburg. Er verarbeitet hier seine Erfahrungen in Amerika, in den beiden Deutschlands und als Reporter in Afrika bzw. als Tourist im asiatischen Teil der Sowjetunion bzw. Rußlands. Viele dieser Texte sind schon aus früheren Büchern bekannt. Seine Berichte über Orte und über Menschen (Henry Truman, Albert Schweizer, Henry Miller, William Faulkner geraten ins Blickfeld) in der neuen Welt, wo er nach einem Umerziehungskurs als Lehrender tätig war, lassen schrittweise Desillusionierung erkennen. Bilder aus der Rückschau auf das geteilte Berlin, aus wechselnder Perspektive diesseits und jenseits der Mauer, hat Seyppel schon in Trottoir & Asphalt als Erinnerungen an Literatur in Berlin 1945-1990 niedergelegt. Die Berichte über Reisen nach Afrika, auf den Balkan und nach Asien hinterlassen beim Leser eher flüchtige Eindrücke, sie sind Ausdruck eines Lebens, das zwischen Heimatsuche und Fernweh, zwischen dem Bedürfnis nach Identifikation und Freiheit verlaufen ist und daher reich an Abbrüchen und Umbrüchen, Abschieden und Neuanfängen. Leider erfährt der Leser über die innere Motivation solchen Lebens nicht eben viel, denn Seyppel versteht sich vor allem als Reporter. Selten habe ich ein autobiographisches Buch gelesen, aus dem so wenig Aufschlüsse über das schreibende Ich zu bekommen waren. Schade eigentlich!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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