Eine Rezension von Volker Strebel


Von Schauder und Schönheit umgeben zugleich

Josef Škvorecký: Der Seeleningenieur

Aus dem Tschechischen von Marcela Euler.

Franz Deuticke Verlagsgesellschaft, Wien 1998, 764 S.

 

Langsam genug hat es sich herumgesprochen, daß im kanadischen Toronto ein tschechischer Romancier ansässig ist, der sich lesen lassen kann. Milan Kundera gehört zu seinen Bewunderern, und auch in den schlimmsten Zensurjahren der „Normalisierung“ wurde der Autor von seinen Lesern in der tschechoslowakischen Heimat nicht vergessen. In Anspielung auf seinen wiederkehrenden Romanhelden Daniel Smiricky erschien 1984 zu Ehren des 60. Geburtstages von Josef Škvorecký in der Untergrundedition „edice petlice“ ein Sammeldband: Danny gehört uns.

Im deutschen Sprachraum hingegen taten sich die Škvorecký-Verleger schwer. Verschiedene Versuche brachten wenig ein. In jüngster Zeit nahm der Wiener Deuticke Verlag das Wagnis auf sich, Škvorecký-Romane, noch dazu in der hervorragenden Übersetzung von Marcela Euler, einem interessierten Publikum vorzulegen. Nach Eine prima Saison (1997) wurde ein Jahr später das voluminöse Werk Der Seeleningenieur in deutscher Erstübersetzung nachgeschoben. Eine wuchtige Lesebombe, die alle bisherigen Lebensstationen des böhmischen Kleinstädters Danny Smirický bündelt und mit einer neuen Dimension konfrontiert. Vorbei ist die Zeit der Pubertät und der zumeist vergeblichen Jagd nach Mädchen. Danny Smirický ist mittlerweile nach Kanada emigriert - der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen hat nicht nur das kleine mitteleuropäische Land völlig überrascht - und verdient sein Geld als Professor für Literatur. Er schlägt sich mit ahnungslosen, aber selbstbewußten „Kindern der Prärie“ herum, und gleichzeitig spielt sich kaleidoskopartig sein bisheriges Leben in der Erinnerung ein zweites Mal ab: die Erinnerung an das kleine Städtchen Kostelec und die Zwangsarbeit in der Fabrik - es war die Zeit des Protektorats -, die Mädchen im Städtchen, die Freunde von der Jazzband.

Der Seeleningenieur spielt in seinem Titel an einen Ausspruch von Josef Stalin an, demzufolge die Schriftsteller die Ingenieure der menschlichen Seelen zu sein hätten. Eine Verbindung von Mensch und Maschine, die es nicht geben kann. Während der Professor versucht, den Kindern einer wahrlich anderen, neuen Welt ein Gefühl von Literatur zu vermitteln, landen seine Gedanken beim Leben selbst. Ein Blick aus dem kanadischen Fenster genügt, und der Professor verwandelt sich in den Striezi von Kostelec, der sich mit der ausgemergelten Nadja heimlich in der Fabrik küßt und aus Imponiergehabe eine Sabotageaktion anleiert, die ihn, als sie herauskommt, vor Angst beinahe um den Verstand bringt. „Seit eh und je sind wir vom Schauder umgeben und von entsprechender Schönheit ...“

Es gibt vielerlei Anlässe, die des Professors Gedanken in andere Zeitabschnitte umkippen lassen: die Jugendlichkeit seiner Studentinnen wie die ideologische Verbohrtheit ihrer männlichen Kommilitonen und natürlich der Schnee vor dem Fenster, die tänzelnden Flocken in der frostigen Nacht. In Škvoreckýs Romanen schneit es oft, und nie wird einem beim Lesen richtig kalt dabei. Kunststück, bei so vielen Damen. Und so sieht der Professor eigentlich nichts Neues: „Es schneite und schneite in einem fort. Als ich durch die Jirásek-Straße zur Kirche lief, wirbelte der pfeifende Nordwind die Schneeflocken durcheinander und warf mich hin und her. Nadja war nicht in der Kirche.“

Dieser Roman ist ein gewaltiges Flickwerk verschiedener Zeiten, will sagen unterschiedlicher Welten, die sich alle in einem einzigen Menschenleben versammeln. „Sie steht in ihrem farbenschillernden Kleid vor mir, vor einem Hintergrund, von dem ich als junger Mann, betört von all dem Hollywood-Kitsch, nur geträumt hatte. Sie raucht eine Zigarette, vielleicht ist es auch ein Joint. Es ist eine absurde Entfernung zwischen Kostelec und der Familie Svensson, und das alles in einem so kurzen Leben.“

Trotz der nur angeschnittenen Stationen des Lebens von Danny Smirický und dem geschichtspolitischen Schicksal seiner böhmischen Heimat ist dieses Werk einer der bedeutendsten tschechischen Exilromane. Toronto überwindet die Nazizeit des Protektorats, den böhmischen Stalinismus und die Phase der „Normalisierung“ nach der Niederschlagung des Prager Frühlings von 1968. Und daß in einem Exilroman Agenten auftauchen - männliche und weibliche -, versteht sich von selbst. Nicht alle enden traurig an der Hotelbar ...

Über zwanzig Jahre hat es gebraucht, bis dieser hervorragende Roman, der 1977 im Škvorecký eigenen Exilverlag „Sixty Eight Publishers“ in Toronto erschienen ist, in deutscher Übersetzung vorliegt. Möglich, daß die europäische Teilung dafür gesorgt hat, daß nicht alle Bedingungen für die Aufnahme der Bücher Josef Škvoreckýs in Deutschland gegeben waren. Der vorliegende Roman beweist eine souveräne, mit Humor gepaarte Reife, der man sich nicht versagen sollte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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