Eine Rezension von Sebastian Kiefer


„... und bei mir sprach: man muß bescheiden sein.“

Thomas Rosenlöcher: Ich sitze in Sachsen und schau in den Schnee

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 124 S.

 

Leer waren die Dichterschubladen der einstigen DDR, als die Mauer fiel. Keine verstohlenen Ritzen, in der die heimliche, unterdrückte, große Literatur überwintert hätte. Und auch der große Wenderoman, den die Kritik förmlich herbeizuzwingen suchte, blieb aus. Die Nischen des ach so grauen Alltags im realen Sozialismus, die wurden dafür, je länger er tot war, nur um so größer. Und als dann der Eiserne Vorhang in Gespensterform zurückkehrte, als „Mauer in den Köpfen“, da mochte man meinen, nichts als Nischen, umrahmt von Stacheldraht und ein paar bösen Buben, sei der Sozialismus gewesen. Die idyllischste aller staatsfreien Zonen der DDR, die lag dem Schloß Pillnitz gegenüber, auf der anderen Seite der Elbe, am südöstlichen Rand Dresdens, genauer: in Kleinzschachwitz. Hier, in einen verwilderten Garten um eine unter den Zähnen der Zeit ächzenden Villa der Jahrhundertwende herum, hier hatte die ästhetische Moderne keinen Einzug halten können. Hier klang Eichendorffs Zwiesprache mit Baum und Blüte beinahe ungebrochen fort; hier war Brockes inniger Glaube an die unscheinbare Kreatur noch nicht ganz tot; Klopstocksche Rhythmen erfüllten das Gezweig, Serenaden aus dem Hause Carl Maria von Webers klangen vom anderen Elbufer her noch immer herein, und über alles hielten Engel ihre schützende Hand- aus Versen Rilkes und Albertis herübergesprungen. Hier hatte für eine Reihe von Jahren, bis die Krake des Kapitalismus in Gestalt von „Modernisierungsmaßnahmen“ heranrückte, der Dichter Thomas Rosenlöcher sein Domizil. Als er 1982 debütierte - wie sich versteht, hieß sein erstes, kleines Bändchen Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz -, stand er bereits weit in den Dreißigern und hatte eine durchaus tüchtige DDR-Jugend hinter sich, ABF, „Ehrendienst“ bei der NVA und SED-Mitgliedschaft inklusive. Für ihn hatte sich der reale Sozialismus mit dem Einmarsch in Prag seinen Totenschein ausgestellt. Protest war seine Sache nicht, der laute, gefährliche und kämpferische schon gar nicht. Daß Rosenlöcher als Endzwanziger noch einmal studierte und diesmal nicht Betriebswirtschaft, sondern Literatur, ist der Fingerzeig, wohin sein Rückzug ging (nach einem „absoluten Tiefpunkt in meiner Biographie“, der Nicht-Verweigerung einer Petition an den Staatsrat für die Ausweisung Biermanns, verfaßt von seinem Lehrer Max Walter Schulz). Die Blankverse zu Beginn seines Bändchens machten es dann unmißverständlich: „Im Garten sitze ich, am runden Tisch, / und hab den Ellenbogen aufgestützt, / daß er, wie eines Zirkels Spitze,/ den Mittelpunkt der Welt markiert. / Ein Baum umgibt mich.“

Doch die Irrwege der Welt sind nicht verbannt aus dem poetischen Paradiesgärtchen, Gefährdungen lauern an den Pforten - und treten ein, zuerst als Irritation des Metrums, dann in einem kleinen, merkwürdigen Adjektiv: „Ein Baum umgibt mich mit vielfachem Grün,/ und langsam steigt das blütenreiche Meer/ des frühen Jahrs. Die Vögel brülln wie irr.“ Die fallenden Blütenblätter werden Schnee, doch die „Äste triefen schwarz“ und plötzlich ist aus dem wohligen Ein- ein Ausgeschlossensein geworden: „und von der Straße her kommt ein Geräusch,/ das war mein Leben. Plötzlich/ bin ich Luft [...]“. Die Mitte der Welt ist keine mehr, die Ferne lockt nun von jenseits der Landesgrenzen. Doch ohne seinen Garten mag der Dichter nicht fort. Als Trost bleibt märchenhafte Innigkeit: „[Ich] rede zu dem Baum,/ ob er nicht doch die Länder wechseln könnte,/ sein unerhöhtes Blühen aufzuführen,/ wo einer noch mit seinem Ellenbogen/ den Mittelpunkt der Welt markiert.“

Hundert Weisen hat Rosenlöcher gefunden, um in seinem Refugium, das nicht weiter reichte, als spazierende Beine tragen können, nicht zu ersticken; um wenigstens im Vers hinaus in die weite Welt zu gelangen, ohne gleich in die Schlingen der Staatsapparaturen zu geraten - burleske Weisen mitunter, märchenhaft verspielte, schelmische, gelegentlich auch kalauernde. In hundert Arten weiß er seine Hingabe an die altehrwürdigen Metren und Formen mit dem, mal liebevoll, mal trotzig, im Alltagsding der Gegenwart versunkenen Blick zu brechen: Das Kleinste kann launisch, augenzwinkernd und doch nicht unernst in höchsten Tönen besungen werden, im Odenton zum Beispiel ein Bröckchen hundsgewöhnlicher „Seife, dich an mich verschwindend schwindest du an mir“. Auf den Spuren von Rabelais läßt er seine Beine - „O rasende Zellteilung“ - kilometerweit herauswachsen, bis sie die Hauptstadt bedrohen, und endet in der für ihn so kennzeichnenden sanften, verspielten Ironie: „Doch eh man meine weitgereisten Füße/ absprengte, knapp vorm Brandenburger Tor,/ geschahs, daß sie von selber stillestanden,/ da ich in jenem Garten in Kleinzschachwitz,/ in jenem Grün von nie gesehenem Ausmaß,/ wo ich nachdachte über die Belange der unerhöhrten Rose und des Staats,/ in Anbetracht des großen Trösters Himmel, den Finger an die Nasenspitze legte/ und bei mir sprach: man muß bescheiden sein.“

Es liegt eine Genauigkeit im Umgang mit dem Metrum in diesen Versen, eine ganz eigene, zart-innige Melodik, die man nicht mehr für möglich hielt. Von einem frischen, doch melancholischen Humor, der sich die Freiheit zum Ulk nicht verbieten läßt, sind sie durchwirkt, und so sind diese Gedichte, obgleich keine noch so bescheidene modernistische Dichtmanier Einzug hält, etwas anderes als das übel beleumundete DDR-„Biedermeier“ (Raddatz): Rosenlöcher kehrt nicht den Stürmen der Moderne den Rücken zu, um die kalten Winde des realen Sozialismus ungestraft zu überstehen - umgekehrt: Längst Totgesagtes überlebt, weil es dem Ich die Freiheit verleiht, die große Welt hineinzulassen, wann und wie es will und so nur um so sicherer der politischen Welt den Spiegel vorhalten kann. Nicht Willkür, sondern äußerste rhyth-mische Disziplin macht, daß das Ich blitzschnell zwischen Intimität und Komik, Hohn und Ulk, Pathos und Banalität zu modulieren vermag (und so „All“ sich mit „Haarausfall“ reimen zu lassen), ohne aus seinem Ton zu fallen. Rosenlöcher nimmt die Herausforderung der Geschichte an, doch ist seine Antwort die eines trotzig produktiven Ausharrens. Ein Leichtes ist ihm, Splitter von Spott auf die graue Funktionärswelt in seine wohlmetrisierten Zeilen einzulagern, an so überraschender Stelle bisweilen, daß „Lenin zwischen den Rabatten/ auch nur ein König von Preußen“ genannt werden kann, ohne der Zensur zum Opfer zu fallen. „Der Mutschöpfer“, lange vor dem Mauerfall in Blankverse gebracht, „sieht die Weltgeschichte. / Die geht immer wieder schief.“ Daher bescheidet er sich mit dem Frühlingsgrün am Gartenzaun, erfreut, wie „Krokus zart die harte Erde bricht“. Doch wieviel Drohung liegt in seiner Quint-essenz: Vorerst noch verzichte!“

Wie das erste, so wurde auch ein zweites Bändchen mit Versen - Schneebier, 1988 - in der DDR mit bescheidenem Wohlwollen bedacht und in der Bundesrepublik überhört (mit Ausnahme Alexander von Bormanns, der dem Dichter mit einem Stipendium einen ersten Aufenthalt im Westen ermöglichte. Das Gedicht „Der Paßgänger“ erzählt gelassen von den neuen Ausblicken, die das brachte und die doch wenig zählen gegen die Freude, wieder daheim zu sein in der „grauen“, aber geliebten „Geometrie“ Dresdens). Eine erste Ausgabe im Westen ging in den Wirren der Vereinigung unter, doch 1990 fand dort ein erster, künstlerisch eher anspruchsloser, doch im Ton sich wohltuend vom Einheitsjubeln unterscheidender Prosaband Gehör. Ein zweiter Prosaband, nicht schlechter aufgenommen als der erste, ließ einen ins 20. Jahrhundert versprengten Abkömmling des empfindsamen Yoricks auf dem Brocken herumirren, ganz ungeniert am dort abgelagerten Traditionsballast vorbei. Ein drittes Prosabüchlein kehrte unterhaltsam, mit dem Rosenlöcher eigenen Humor und der ihn auszeichnenden Insistenz auf dem konkret Erfahrenen, noch einmal zu den Querelen ostdeutscher Befindlichkeit zurück. Dort finden sich schelmische Episoden aus der NVA-Zeit, die sich wie verspätete Kommentare zum frühen Gedicht „Übung“ ausnehmen. Auch der „Nickmechanismus“, der nach früheren Versen die DDR-Untertanen „zusammengefaßt [hat]/ in einem System von Semmelgesichtern“, wird in burlesken Episoden noch einmal vorgeführt. Sticheleien und Seitenhiebe auf westdeutsche Konsum- und Eroberermentalität bildeten dabei das Gegengewicht, und sie zieren auch einen dritten, 1996 erschienenen Gedichtband, der das Ich zwar - naturgemäß - vermehrt auf Reisen schickte, doch im Fundament nur verfeinerte, kräftiger und variabler instrumentierte, was im Jahrzehnt zuvor entwickelt worden war: Das Verschwinden des stalinistischen Korsetts vermochte vorerst nicht, den Dichter davon zu überzeugen, daß man jetzt nicht mehr von Organisten oder Großvätern, die im Himmel spazieren, dichten dürfe, daß ein Wort wie „Zickzacksmaragd“ im ernsten Gedicht nichts zu suchen habe, daß es unzeitgemäß sei, „Herr Brockes sitzt am Fenster“ zu dichten, und hoffnungslos altmodisch fortzufahren: „Der Diener klopft an, bringt den Gottesbeweis/ im Wasserglas, einen Kirschblütenzweig“.

Nein, die „Wende“ vermochte den Dichter Rosenlöcher nicht zur Umkehr zu bewegen, und so ist es nicht überraschend, daß ein neuer Band mit Gedichten, den der Suhrkamp Verlag vorlegt, kein neuer ist, sondern eine - in Kleinigkeiten überbearbeitete - Auswahl aus den ersten beiden Bändchen. „Andauernd soll unsereins etwas Neues schreiben. Und immer fragen einen die, die das Alte auch noch nicht gelesen haben. Und das Neue natürlich auch nicht lesen werden, das bald wieder das Alte ist“, rechtfertigt sich eine kleine „Schlußnotiz“. „Freilich, auch unsereins liest lieber etwas Neues von sich. Zumal die vorliegenden Gedichte mit dem Wegfall der DDR nun auch schon eine Zeitenwende hinter sich haben; ein, nicht umsonst vom Untergang ganzer Bibliotheken begleitetes, Verschwinden des ursprünglichen Bezugssystems.“ Und in der Tat, das „Bezugssytem“ der DDR-Lyrik der 70er und 80er Jahre, in das die nun wiederveröffentlichten Arbeiten hineingedichtet wurden, ist nur noch Spezialisten erinnerlich. Karl Mickels „Der See“, auf das uns eine kleine Anmerkung zum Gedicht „Die Entleerung“ als parodiertes Urbild hinweist, ist da wohl noch die Ausnahme. Wem aber stünde heute noch Peter Gosse vor Augen, wenn ein Rosenlöcher-Gedicht „Dädalus“ im Jetzt und Hier vorbeifliegen läßt mit allen möglichen anderen Vögeln (zumal keine Anmerkung hierauf verweist)? Uwe Greßmann, Endler, Kunert, Kito Lorenc, Volker Braun, Czechowski, sie alle klingen an in diesen Versen, denn alle waren Teil des halblauten Gespräches für Eingeweihte, das die DDR-Lyrik auch war. (Die Konversationsfäden, die Rosenlöcher aufnahm und fortspann, wurden dementsprechend von den anderen ihrerseits aufgenommen.) Schöner als in den Versen Rosenlöchers, die kunstbewußt und doch unbekümmert mit Blankvers und Hexameter, mit Moritatenzunge und hohen Tönen der Ode oder sogar der Bibel („Und siehe:“) daherkommen, anrührender könnten wir nicht daran erinnert werden, wie lebendig dieser dem öffentlichen Gedächtnis entschwundene Diskurs war. Nur unseren gewohnten ästhetischen Blick, geschult am linearen Bild der Moderne, den müssen wir aufgeben, wollen wir diese Poesie neu entdecken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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