Eine Rezension von Irene Knoll


Spiel des Zufalls

Ingrid Noll: Röslein rot

Diogenes Verlag, Zürich 1998, 292 S.

 

Schon mit Kalt ist der Abendhauch hatte Ingrid Noll einen anderen Ton angeschlagen. Und so sehr ich auch für die ungeniert gewissenlosen Heldinnen ihrer vorangegangenen Kriminalromane schwärmte, deren abgründiger Humor einem Stunden vergnügtester Mittäterschaft offerierte, war mir die alte Charlotte in Kalt ist der Abendhauch doch die sympathischste Nollsche Heldin.

Charlotte, achtzig Jahre alt und gegen die Beschwerden ihres Alters mit drastischem Realitätssinn gewappnet, wird zu einer Lebensbilanz genötigt. Und so, ohne Larmoyanz, wird ihr Leben reflektiert, eine Zeit heraufgeholt und von den bis in den aktuellen Moment fortwirkenden Bindungen und Konflikten einer kleinbürgerlichen Familie in diesem Jahrhundert erzählt. Der Ingrid Nolls Erzählweise auszeichnende Humor wirkt hier als Charakteristikum der Ich-Erzählerin, als ich-bejahende und lebenserhaltende Potenz. Und der Kriminalfall, den es auch in diesem Buch gibt, gehört zu den tragischen, aber letztlich ins Komische versetzten Ereignissen ihres Lebens. Das ist ein schönes, durchweg stimmiges Buch und legt die Vermutung nahe, daß Ingrid Noll fortan weniger Kriminal- als vielmehr Menschengeschichten erzählen will.

Diese Vermutung wird durch Röslein rot, ihr jüngstes Buch, bestätigt. Annerose, Rosi, Röslein, Neu-Röslein, sieht ihrem 40. Geburtstag entgegen, sie ist verheiratet mit Reinhard, einem Architekten, hat zwei Kinder, ein Haus, zwei Freundinnen mit Familie. Man könnte das ein sorgenfreies Leben nennen, ahnt aber von Anbeginn der Ich-Erzählung die Unzufriedenheit der Heldin. Ihre Unzufriedenheit scheint sowohl ihre Vergangenheit, Eltern und Kindheit, als auch die gegenwärtigen Kontakte und Lebensgewohnheiten zu durchdringen. Nur manchmal, wenn sie am häuslichen Küchentisch malt, ist sie ganz bei sich und vergißt den Alltag. Dann mag man sie und wünscht ihr, sie könne sich aus den Zwängen der Familienmutter und Hausfrau befreien.

Mit der Unentschlossenheit, die der Person eigen ist, geht die Geschichte ein wenig schleppend voran, durch Eifersüchteleien, Kräche, Neid und Unterstellungen. Gelegentlich kommt in Annerose etwas von der bösartigen Kraft anderer Noll-Frauen auf, gelegentlich auch etwas von ihren spielerischen und kreativen Begabungen, aber letztlich reichen weder ihre Unzufriedenheit, noch ihre Eifersucht, noch ihr Wunsch nach Kreativität aus, um eine Änderung herbeizuführen. Frauen wie Annerose gibt es sicherlich en masse, und wenn Ingrid Noll diese zeitgenössischen Normas, denen der Mut und die seelische Kraft ihrer Vorgängerin unter den normativen Einschränkungen von außen, aber auch der Selbsteinschränkung des Anspruchs auf eigene Lebensgestaltung abhanden gekommen sind, charakterisieren wollte, so ist ihr das partiell gelungen.

Man freut sich beim Lesen an vielen treffenden Beobachtungen des alltäglichen Zusammenlebens und der Menschenseele und auch über diverse pointierte Feststellungen, aber über die Zähigkeit des Prozesses hilft das nicht so recht hinweg. Mir scheint auch, daß die sinnigen Interpretationen barocker Stilleben, die die Autorin ihrer Heldin vorgibt und die gleichsam eine zweite Ebene ihres Seelenzustands spiegeln, den Horizont der Person überfordern.

Die Lösung kommt schließlich von außen. Ein Mord, der den Leser wie die leidende Annerose gleichermaßen überrascht, weckt ihre Überlebensgeister. Annerose, höchste Gefahr witternd, wird agil.

Ein Kriminalroman ist Röslein rot so wenig wie Kalt ist der Abendhauch. Aber in letzterem steht der Mord innerhalb der Notwendigkeiten der Geschichte, in Röslein rot muß er leisten, was die Geschichte nicht leistet. Ingrid Noll hat sich mit Röslein rot viel vorgenommen und auch beachtlich geschlagen. Daß sie mit ihrer Geschichte schließlich in der Sackgasse gelandet ist, entspricht nur den Kausalitäten. Die drei Freundinnen in diesem Buch verhalten sich unterschiedlich zu etwa gleichartigen Lebens- und Eheverhältnissen, aber mehr oder weniger sind sie die Opfer, die der Erhaltung genau dieser Verhältnisse gebracht werden. Manchmal, selten, fast nur im Buch, hilft ein Zufall, sprich Mordfall, aus der Misere. Annerose immerhin nutzt ihre Chance, aber ob die neue Freiheit mehr Glück bedeuten wird, erscheint auch der Autorin am Schluß sehr fraglich.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite