Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold


Erbarmungsloser Realismus

Rick Moody: Ein amerikanisches Wochenende

Roman. Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl.

R. Piper, München 1998, 407 S.

 

Der Hintergrund dieses ungewöhnlichen Romans aus den und über die Vereinigten Staaten von Nordamerika ist dreidimensional.

Da ist einmal ein Stück der unbewältigten Vergangenheit, diesmal nicht Trauma Nr. 1, der Vietnamkrieg, sondern die lebensgefährlichen Atomwaffenversuche von 1946 im Gefolge des Ersteinsatzes der Bombe über Hiroshima und Nagasaki.

Da ist zum zweiten eine Momentaufnahme der unbewältigten Gegenwart in Gestalt einer hoffnungslos kranken bettlägerigen Frau und deren stotternden Sohnes, alkoholabhängiger dreißigjähriger Versager nach landläufiger Ansicht, sowie dessen Stiefvater, leitender Angestellter eines Kernkraftwerks, der am Tage eines mittelschweren Störfalls in Vorruhestand gegangen ist, abgeschoben wurde. Eine Middleclass-Familie auf dem absteigenden Ast, unfähig, mit ihren Problemen erträglich fertig zu werden, durch ein dünnes soziales Netz nur scheinbar vor dem Äußersten geschützt, und so kommt es an einem beliebigen Wochenende zum Äußersten.

Da ist drittens die gefährdete Zukunft eines großen Teils der amerikanischen Gesellschaft, dargestellt am Alkohol- und Drogenmißbrauch vieler junger Leute sowie am Versagen der Familienbeziehungen einer pauperisierenden weißen Mittelschicht, dargestellt ferner an einer Langzeitbombe: Verseuchung der Umwelt durch Emissionen und Immissionen aus Atomkraftwerken und Atom-U-Booten.

Alle diese Hintergrundfaktoren sind der Handlung des Buches dezent beigegeben. Der Leser nimmt sie mit der Schilderung der hauptsache auf, der sich im Vordergrund abspielenden Mutter-Sohn- und Ehefrau-Ehemann-Beziehung. Sohn wie Ehemann fühlen sich außerstande, die sieche alte Frau zu pflegen, bedauern dies, gehen aber nicht dagegen an. Die Frau fühlt es, weiß es. Sie möchte eigentlich erlöst werden, eigentlich aber auch weiter leben. Beides verständlich. Schließlich versagt der stets versagende Sohn bei der erbetenen Sterbehilfe für seine Mutter, die ihm - das wird bei einer Rückblende auf sein Leben angedeutet - wohl zu wenig Lebenshilfe gegeben hat.

Rick Moody, Jahrgang 1961, hat hier seinen dritten Roman vorgelegt. Er ist 1997 in New York unter dem Titel Purple America erschienen. Vorgänger war Der Eissturm, von Ang Lee verfilmt und 1997 in Cannes mit der Goldenen Palme für das beste Drehbuch ausgezeichnet. Moodys Erstling, Garden Staate, erhielt in den USA mehrere Literaturpreise. Der Autor ist bereits ein Stern am Lesehimmel eines riesigen Buchmarktes.

Im vorliegenden Buch werden wir mit erbarmungslosem Realismus durch ein Weekend geführt, an dem sich das purpurrote Amerika zwar ohne das übliche Blutvergießen zeigt, aber mit blutroter Stigmatisierung. Es ist ein beflecktes Amerika, keine heile Welt, nicht Gottes eigenes Land. Moody wird sich mit diesem Roman nicht nur Freunde gemacht haben. Er wird auch denjenigen Deutschen mißfallen (sofern sie ihn lesen), die vom Gesellschafts- und vor allem vom Wirtschaftssystem der USA Vorbildliches ableiten.

Erbarmungsloser Realismus, wenn der Autor in einem Atemzug erzählt, wie der Sohn seine Mutter trockenlegt, wäscht, badet, füttert, schwankend zwischen Liebe und Verdruß, tiefer Zuneigung und Verdrängen des aufkeimenden Tötungsgedankens. Hohe Kunst der Ironie, wie der Autor die Praktiken pfuschender Handwerker-Idioten beschreibt, an die sich der Sohn aus seiner Jugendzeit erinnert. Die Schilderung wird so weit getrieben, daß der Leser dazwischengehen möchte, um dem üblen Spiel mit der Geduld einer willensschwachen Frau ein Ende zu bereiten.

Bis an die Grenze literarischer Darstellungsmöglichkeit geht Moody mit der Beschreibung vom Sex des Söhnchens, das auch in diesem Punkt zusammen mit einer Schulfreundin aus alten Zeiten von den hohen Anforderungen intakter amerikanischer Familien abweicht, was immer unter solchen Familien zu verstehen ist - und sofern es sie gibt, sie nicht nur geheuchelt werden. Und man meint, den grauenvollen Zustand eines Alkoholikers förmlich selbst zu erleben, wenn der Autor diesen vorzeitig zum Wrack werdenden Menschen nach einer Saufnacht vorführt.

Bei aller Gnadenlosigkeit aber hütet sich Moody vor schrillen Farben. Er überzeichnet nicht, sondern beschreibt so, daß stets noch ein Gelbfilter vorgesetzt bleibt, der die Szene in einen Schimmer des Erbarmens, des Mitgefühls taucht. Der Autor will offenbar nicht zerstören. Vielleicht möchte er warnen. Seine Darstellungsweise, die streckenweise kein Atemholen gestattet, erinnert an William Faulkner, besonders an Griff in den Staub (Original Intruder in den Dust, New York 1948). Moody macht das Lesen nicht ganz leicht, verlangt Geduld. Sie wird belohnt. Das Buch zieht eine Spur, sogar eine Furche im Gedächtnis des Lesers. Der Gedanke, es wegzulegen, ist nicht aufgekommen. So souverän geschildertes mieses kleines Leben mit diesem kleinen Rest menschlicher Liebe zieht in den Bann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite