Eine Rezension von Henry Jonas


Gender Trouble - Das Unbehagen der Geschlechter

Thomas Meinecke: Tomboy

Roman.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 252 S.

 

Mein Unbehagen resultiert weniger aus dem Umstand, daß es sich nicht um einen Roman mit deutlichem Anfang, akzentuiertem Ende und kräftiger, bewegender Handlung als vielmehr um einen Essay handelt, dessen reichliche Hälfte aus (zum Teil fremdsprachlichen) Zitaten oder aus Exzerpten aus wenigstens 66 Büchern besteht, sondern daß weitgehend unklar bleibt, was den Autor eigentlich bewegt und wofür er plädiert. Schreibt er gegen den tradierten halbkolonialen Status der Frauen an (Otto Weininger: „Das Weib besitzt kein Ich. Das Weib ist nichts.“) oder gegen den radikalen Feminismus (Valerie Solana: „Männlichkeit ist eine Mangelkrankheit und Männer sind seelische Krüppel, der Mann eine unvollständige Frau, eine wandelnde Fehlgeburt.“)? Oder hält er es mit D. H. Lawrence, der notiert, daß Frauen manchmal Männer werden, so daß die Männer nicht mehr männlich zu sein brauchten, und daß manchmal alle Männer wie Frauen wurden, so daß die Frauen nicht länger fraulich zu sein brauchten. „Und manchmal, ach so selten, blieb der Mann Mann und die Frau Frau, und sie kamen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen und waren sehr glücklich.“ Diametrale Positionen werden eigentlich endlos aufgereiht und ziemlich kommentarlos nebeneinandergestellt. Klar wird nur, daß es um Geschlechterpolarität geht, um die Frage männlicher und weiblicher Sexualität, und dafür wird gigantisches Material ausgebreitet. Soll das Geschlechterverhältnis zum Tanzen und die Polarität zum Abschmelzen gebracht werden? Dazu ist die Romanhandlung nicht beweiskräftig genug.

Was ein Tomboy ist, wird gleich auf dem Schutzumschlag erklärt: ein Mädchen, das sich wie ein Junge benimmt. (Als Beispiel für burschikose Mädchen benennt der Autor im Text Leni Riefenstahl und Marlene Dietrich.) Offenbar zielt der Titel auf die Mittelpunktfigur, die hübsche brünette und von allen Männern und Frauen umworbene Vivian Atkinson (24), Tochter einer sexbesessenen Deutschen und eines einst in Deutschland stationierten GI (seit einigen Jahren sind beide auf und davon), die 1997 in Heidelberg an einer ausufernden Magisterarbeit über „Geschlechtliches Haben, Sein und Scheinen“ sitzt und ihre ganze Umwelt und alle Zeiterscheinungen unter dem Aspekt ihres Themas betrachtet. Zu dieser Umwelt gehören ihr Nachbar Bodo Petersen (39), ein zupackender, aber wenig intellektueller BASF-Angestellter und engagierter Kavalier, der ihr jeden Morgen seine Zeitung bringt, ferner der sanft-weibische Hans Mühlenkamm (21), Gelegenheitsarzthelfer und unheilbarer Kleptomane, der Vivian ununterbrochen anhimmelt, sowie Korinna Kohn (27), eine bildhübsche Richterstochter, bisexuell, begeisterte Tennisspielerin, die kurz vor dem akademischen Abschluß steht, aber seit einigen Monaten schwanger ist von einem Drogendealer, der im Gefängnis sitzt.

Dieser Personenkreis unterhält Beziehungen zu einer Wohngemeinschaft, in deren Mittelpunkt die platinblonde und lesbische Frauke Stöver (32) steht, die schon seit Jahren über die Vorhaut Jesu promoviert und nicht zu Rande kommt. Sie lebt mit dem Italiener Angelo Guida zusammen, Kellner in einer Lesben-Pizzeria, einem hyperfemeninen Mann, der sich selbst zur Lesbierin erklärte und zu Angela Stöver umbenannte. Zum Haushalt gehören noch drei Lehrerinnen: Genoveva Weckherlin (43), Studienrätin und reizgasbewehrte streitbare Ladendiebin, Ilse Lehrerin (Nomen est Omen), und Pat Meier (43), eine maskuline Frau, die aus Angst vor einem chemischen Angriff heimlich die BASF ausspioniert und sich (auch aus Sympathie) mit Bodo Petersen liiert. (Das Ende des Romans bildet eine Hausdurchsuchung bei beiden durch Kripo-Beamte.)

Diese Personen besuchen sich gegenseitig, sie tauschen Bücher und Platten, machen Spaziergänge und Wanderungen, Spritztouren mit dem Auto oder Fahrten mit dem Mountain Bike, sie frönen der Mode (der Autor publizierte 1998 bereits über „Mode und Verzweiflung“), gehen auf den Tanzboden oder zu Vorlesungen. Sie hören Rock-, Pop- und Jazz-Musik (der Autor weiß als Discjockey gut Bescheid), lesen den „Mannheimer Morgen“ und die „Rhein-Neckar-Zeitung“ (Strandung von Pottwalen an der Nordseeküste, das Skandal-Video der Bundeswehr, Versace in Miami ermordet, die Gebeine von Che Guevara aufgefunden, Prinzessin Dianas Todesfahrt an den Betonpfeiler, die Mannheimer Boehringer-Werke werden vom Pharma-Riesen Roche geschluckt u. a., auch die Kontaktanzeigen geben etwas her.) und vor allem - sie reden, diskutieren, referieren. Das nahe gelegene BASF-Werk und die IG Farben in Vergangenheit und Gegenwart sind ein Thema, die RAF samt Baader-Meinhof und Irmgard Möller (immer noch!), das geschmacksverbildende Privatfernsehen à la Arabella Kiesbauer, vor allem aber geben die theoretischen Gefilde ihrer akademischen Untersuchungen den Stoff.

Da geht es um Körper, Subjekt und Identität, um anatomisches und soziales Geschlecht, um Gebär- und Penisneid sowie Kastrationsangst, um das Verhältnis von Vulva und Skrotum, von Klitoris und Glans, von Vagina und Penis. „Dazu möchte ich euch eine Stelle aus... vorlesen“, heißt es dann, oder „lies mal das hier!“. Oder der Autor schreibt: „Sie schaltete ihren Computer ein, um die folgenden Stichworte in den Kontext ihrer Magisterarbeit zu flechten.“ Über einem Absatz steht einfach: „Aus Vivians Weininger-Exzerpten“, über dem nächsten „Weininger weiter“ und über dem dritten „Noch Weininger“. So werden die vielen und oft langen Zitate untergebracht.

Thomas Meinecke (44) aus Hamburg, Schriftsteller, Musiker (Band FSK) und Radio-Discjockey, heute in Oberbayern lebend, macht das durchaus geschickt (wenngleich seine Sätze - verschachtelt und mit Einschüben vollgepackt - oftmals überquellen). Aber das Puzzle wird nicht durch eine stringente Handlung beweiskräftig zusammengefaßt. Vivian, Korinna, Frauke, Ilse, Pat und Genoveva, die nach Emanzipation streben, weisen tatsächlich männliche Züge auf, aber Angelo, Hans und Bodo haben eine ausgesprochen schwache Position. Alles, was geschieht, ist alltäglich und fast zufällig, es gibt keine Zuspitzung, und niemand wird vor eine wirkliche Entscheidungs- oder Bewährungssituation gestellt. Und die Fragen der Homo-, Hetero-, Zwangshomo/hetero-Sexualität lassen sich weder durch Freud, Benjamin, Kracauer, Lukacs, Nietzsche, Hirschfeld, Descartes oder Habermas ästhetisch befriedigend in einem Roman beantworten, noch mit Hilfe von Boyarin, Barbin, Cornell, Choisy, Bovenschen, Eikins oder Le Rider. Ein Roman kann nur ein Beispiel geben, das zum Nachdenken anregt, indem er anschaulich und nachvollziehbar Schicksale vorführt, die bewegen und unter die Haut gehen. Aber das ist nur eine ganz persönliche Meinung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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