Eine Rezension von Roland Lampe


Mit siebzehn hat man noch Träume

Martin Kluger: Die Verscheuchte

Ullstein Verlag, Berlin 1998, 182 S.

 

Das ist ein Buch, das mir imponiert - „gefällt“ wäre nicht das richtige Wort -, das mich aber auch verstört hat. Das entspräche ja auch dem Tenor des Rückseitentextes („Sie werden bei diesem Buch lachen können. Es ist aber auch völlig in Ordnung, wenn Sie weinen.“)

Aber bin ich nun verstört, weil die Geschichte gut erzählt ist und mich berührt hat, oder bin ich vielmehr verärgert darüber, daß der Autor die gute Idee, das spannende Thema verschenkt hat?

Zunächst einmal will ich das Buch vorstellen: Tali Zwikatz, eine „Berliner Göre“, wohnhaft in der Motzstraße in Schöneberg, siebzehn Jahre alt, wird erwachsen. Ihre Mutter ist gestorben; ihr Vater ist nicht irgendein Vater, sondern der berühmte jüdische Schriftsteller George (Georg) Zwikatz, der in den sechziger Jahren mit dem Versepos „Hopalong Cassidy“, das alle Kinder in der Schule kennenlernen durften, berühmt geworden ist.

Da sind die Konflikte für ein junges Mädchen natürlich vorprogrammiert: Auseinandersetzung mit dem Übervater, der in der Öffentlichkeit Kultstatus genießt, aber seit Jahren keine Zeile mehr geschrieben hat, Auseinandersetzung mit der jüdischen Vergangenheit (die Familie ist bis auf George in Auschwitz umgekommen, darunter Talis Tante, deren Vornamen sie bekommen hat), vor allem aber damit, wie jetzt - das Buch spielt im (West-)Berlin der achtziger Jahre - mit dieser Vergangenheit umgegangen wird. Tali jedenfalls ist nicht bereit, etablierte, bequeme Verständigungsmuster zwischen Juden und Deutschen (für sich) gelten zu lassen.

An Fahrt, an Dramatik gewinnt die Geschichte, als Karin Lindner, eine „hoffnungsvolle deutsche Jungdramatikerin“, die „Dichterin deutscher Gesamtschuld“, in beider Leben tritt. Sie hat sich mit Zwikatz u. a. deswegen liiert, um gemeinsam mit ihm das Stück „Purgatorium“, das in einer Gaskammer spielt und auf das „alle politisch korrekten Feuilletons schon hoffnungsfroh warten“, zu schreiben und auf die Theaterbühne zu bringen. Tali setzt alles daran, um ihren Vater aus diesen Fängen zu befreien, doch was passiert: Sie verliebt sich in Karin Lindner.

Das alles ist in einem Stil erzählt, für den mir die Begriffe Witz, Ironie, Schärfe, provozierende Komik einfallen. Der erfahrene Autor erzählt die Geschichte aus einer Sicht, die es ihm ermöglicht, die Dinge zuzuspitzen: aus der Sicht der Siebzehnjährigen. Und was könnte provozierender sein als der Kampf (der Rücktitel spricht sogar von „Krampf“), als die Auseinandersetzung einer sensiblen, wachen und klugen Heranwachsenden, die noch nicht „vernünftig“ und somit nicht angepaßt ist, mit den „hohlen Bekenntnissen“ und „wohlfeilen Sprüchen“, die in der Gesellschaft, die für Tali zunächst einmal die Erwachsenenwelt ist, vorherrschen?!

Da ist Komik natürlich vorprogrammiert, aber auch Tragik: Erstens zahlt Tali ihren Preis - sie ist einsam, oft treibt sie nur die blanke Verzweiflung -, und zweitens weiß natürlich jeder ältere Leser, daß man nicht ewig siebzehn sein kann und sich irgendwann mehr oder minder anpassen muß, will man nicht selbst zur komischen Figur werden (oder?).

Am Ende des Buches, zum Zeitpunkt ihres sogenannten Eintritts ins Erwachsenenleben, übernimmt Tali das Erbe, den Nachlaß ihres Vaters. Wie wird sie damit umgehen? Wie wird sie sich entwickeln? Man ist neugierig und möchte ihr zehn Jahre später noch einmal begegnen.

Das Buch ist in 33 knappe Kapitel aufgeteilt; ob es nun ein Roman ist oder nicht, darüber könnte man mit oder ohne Reich-Ranicki sicherlich trefflich streiten. Die Tatsache, daß es sehr geschickt komponiert und daß jedes Kapitel szenarisch angelegt ist - man fühlt sich manchmal ins Kino versetzt -, sowie die plastische, lebendige Sprache (die ja die Sprache der Hauptfigur ist) verwundern nicht, wenn man die Biographie des Autors studiert: Martin Kluger, 1948 in Berlin geboren, hat sich bisher vor allem als Drehbuchautor (Kinoerfolge „Rama Dama“ und „Felidae“) einen Namen gemacht; er schrieb zahlreiche Fernsehfilme und Serien, vier Theaterstücke und Hörspiele.

Manchmal fühlt man sich an Manfred Bieler und sein berühmtes Buch Maria Morczek oder Das Kaninchen bin ich aus den sechziger Jahren erinnert.

Eine spannende Geschichte also, aber ebenso packend, imponierend, meisterlich erzählt?

Ja, grundsätzlich ja und jedem zu empfehlen. Trotzdem möchte ich am Schluß auf meine Verärgerung, die ich eingangs erwähnte, zurückkommen und fragen dürfen: Opfert der Autor nicht hier und da die spannende und interessante Thematik - die für mich persönlich in der Literatur völlig neu ist - und damit möglichen Tiefgang nicht allzuoft auf dem Altar der bewegten Bilder, der zugespitzten Dialoge, der schnellen Abläufe? Ist er nicht hier und da allzusehr in seinen Stil, in seine Formulierungen, in seinen Witz selbstverliebt und vergißt darüber die Figuren - vor allem die Hauptfigur -, so daß sie kein Eigenleben mehr führen und der Leser aus dem Bann der Geschichte herausgerissen wird und ernüchtert feststellen muß: So gut sich das alles auch liest, es ist ja nur ausgedacht?

Eine letzte Frage zum Titel des Buches: warum Die Verscheuchte? Tali, die damit wohl gemeint ist, wird nicht verscheucht, weder von Karin Lindner noch von ihrem Vater, im Gegenteil, sie suchen immer wieder ihre Nähe. Wer oder was also verscheucht sie, und vor allem: von welchem Platz? Um verscheucht zu werden, muß man doch erst einmal einen Platz eingenommen haben, und Tali ist auf der Suche, saß noch nie auf einem Platz. Ist sie es nicht vielmehr, die scheucht, oder genauer: aufscheucht?

Aber das sind nur so Fragen, für andere Leser mag Tali Zwikatz eine laut Rückseitentext „unvergeßliche Figur“ geworden sein, ich fand es auf jeden Fall sehr interessant, sie kennengelernt zu haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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