Eine Rezension von Maria Careg


Lied des Lebens

Alice Borchardt: Die Mauern von Chantalon

Roman. Deutsch von Susanne Tschirner.

Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998, 639 S.

 

Ist es nun ungerecht, eine Autorin zu ihrem Debüt als Schwester einer berühmten anderen Autorin einzuführen? Sei es, wie es sei - Alice Borchardt ist die ältere Schwester von Anne Rice, der amerikanischen Fantasy-Autorin, die auch deutschen Lesern mit vielen Romanen bestens bekannt ist. Anne Rice beschreibt ihre Schwester in einem euphorischen Vorwort als die phantasievollere von beiden, als diejenige, die zu jeder Gelegenheit Geschichten erdachte und diese dann mit ihr weiterspann. Sollte es wirklich so sein, dann wären uns bisher viele spannende Geschichten entgangen. Um es vorwegzunehmen: Alice Borchardt ist ihrer Schwester mindestens ebenbürtig, auch wenn sie sich in ihrem Erstling erst „einschreiben“ muß, bis sie ihren eigenen Rhythmus und die Geschichte ihren Fluß gefunden hat. Von jenem Moment aber, der ungefähr im ersten Drittel liegt, verliert sich der Leser in einer wundervoll erzählten, überaus stimmigen Geschichte aus der Zeit des frühen Mittelalters.

Owen, der junge Bischof der fränkischen Stadt Chantalon, begegnet auf seinem Ritt durch die von Wikingern heimgesuchten Lande einer jungen Frau, Elin, deren Mutter vom Alten Volk abstammte. Sie warnt Owen in einer lebensbedrohlichen Situation, und er wiederum errettet sie aus der Gefangenschaft bei den Wikingern. Eine zarte, verletzliche Liebesbeziehung bahnt sich an zwischen dem Christen und der Anhängerin des alten Glaubens. Als sich erweist, daß der Graf, in dessen Herrschaftsbereich Chantalon liegt, ein doppeltes Spiel spielt, müssen Owen und seine wenigen Getreuen den Kampf gegen die Wikinger selbst aufnehmen, um die Stadt und ihre Bürger zu schützen. „‘Komm zurück’, flüsterte Elin, ‘komm zurück und liebe mich. Diese Bürde ist zu schwer, als daß ich sie allein tragen könnte. Ich habe mich dir und deiner Stadt mit Leib und Seele verschrieben. Ich hatte keine Wahl, denn du und dein Volk, ihr seid eins. Was soll ich noch tun?’“ Elin ruft ihre Verwandten zu Hilfe, und diese werden mit ihrer Fähigkeit, im Einklang mit den Naturgottheiten zu leben, für Owen nach seiner Entführung durch die Eindringlinge schließlich zu einer unschätzbaren Hilfe. Elin dagegen muß sich in der Christenwelt behaupten, in der eine Frau wenig gilt. Die beiden unterschiedlichen Sicht- und Aneignungsweisen der Realität prallen hier gegeneinander, und es stellt sich die Frage um den Ausgleich zwischen beiden. „Der Christuspriester ist nicht aus ihrem Holz geschnitzt, er ist mehr. Das wußte ich, als ich ihn in der Kirche sah. Er stand vor seinem Volk und legte ihm sein Leben zu Füßen. Eine Macht war in ihm, die Macht aller Lieder und Träume. Die Macht erfüllte ihn, und er umarmte sie.“ Auf sich selbst zurückgeworfen, gelingt es sowohl Owen als auch Elin, für das Wohl der ihnen anvertrauten Menschen über ihren Schatten zu springen, das Vertrauen ihrer Umgebung zu erwerben - unter den Franken ebenso wie beim Alten Volk - und ihrer Liebe eine solide Grundlage zu geben, so daß sie am Ende den schwer erkämpften Sieg verdient haben.

Nicht wenige Romanautoren erliegen der Gefahr, Situationen nur zu erklären, anstatt sie darzustellen und aus sich heraus wirken zu lassen. Alice Borchardt dagegen gelingt es mit zunehmend sicherer Hand in unaufdringlicher Weise, Charaktere und Szenen lebendig wirken zu lassen. Ihre Lust am Fabulieren verführt sie zwar zu einigen wunderlichen Einfällen, die aber der Geschichte nur zusätzlich Farbe verleihen. Man merkt deutlich, daß die Autorin ihre Helden liebt, daher läßt sie sie zwar gefährliche Abenteuer durchaus glaubwürdig bestehen, gestattet aber selbst Nebenfiguren, deren sorgfältige Ausformung bis zum Ende durchgehalten wird, ein Happy-End.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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