Eine Rezension von Sebastian Kiefer


Biographie eines „patentierten Musterknaben“

Franz Joseph Görtz/Hans Sarkowicz: Erich Kästner

Eine Biographie.

R. Piper, München 1998, 372 S.

 

Er besaß nicht die Noblesse eines Polgar, nicht die Virtuosität eines Joseph Roth, (von denen er, wie so viele seiner Generation, lernte), nicht den Charme eines Tucholsky, doch war seiner Stimme ein ganz eigener, hellwacher Ton eigen, ohne den das Feuilleton dieses Jahrhunderts ärmer wäre; er besaß nicht die politische Gradlinigkeit Franz Mehrings, nicht die Intellektualität eines Brecht oder eines Rühmkorf, doch kann die Geschichte der „Gebrauchslyrik“ nicht ohne ihn geschrieben werden, und das moderne Jugendbuch, zu dem er nur per Zufall kam (S.107), ist ohne ihn nicht denkbar. Jetzt ist seine, ist Erich Kästners Biographie da. Nicht, daß das Buch, mit dem der Piper-Verlag den Gabentisch zum Hundertsten des Vaters von „Emil“ und dem „doppelten Lottchen“ krönt, in irgendeinem Sinne Anspruch auf historische Vollständigkeit erheben könnte oder wollte - rund und in sich komplett ist das Buch, weil es die verschiedenen Gesichter des Erich Kästner vor uns ausbreitet und sie, ohne die Nahtstellen zu verdecken, behutsam zu einem mehrdimensionalen Porträt fügt. So manch blinder Fleck in der solcherart angelegten Karte des „bravsten Sohnes“ und „patentierten Musterknaben“ (Kästner über Kästner), der ein notorischer Aufsteiger war (und dies freimütig bekannte), doch darüber den scharfen Blick für die politische Realität nur selten verlor (und zum Beispiel die heraufziehende Diktatur früher und genauer diagnostizierte als ein Gutteil seiner Zeitgenossen), tut der Plastizität des Bildes, das wir uns von Kästner nun machen können, keinen Abbruch. Ganze Jahre seines Lebensweges sind uns wohl für immer aus den Augen entschwunden (die Zeit nach der Sportpalastrede Goebbels’ bis ins Frühjahr 1945 etwa, vgl. S. 240ff.), doch das Porträt ist vollständig. Daß Kästner mit einem „untrüglichen Instinkt für das Neue“ im Kunstfilm der 20er Jahre gesegnet war, lesen wir, so wir nicht Filmhistoriker sind, vielleicht ein wenig überrascht (S.94), und gleich darauf, daß, wo er selbst den Handel mit den Mogulen der laufenden Bilder, den kleinen und den großen bis hinauf zur Ufa und Metro-Goldwyn-Mayer (S.211), suchte, es ihm nur um eines zu tun war - um den kommerziellen Erfolg. Er war, so es ums eigene Geld ging, zu (fast) jedem Zugeständnis bereit (vgl. z. B. S.140, 229), gerade auch im Dritten Reich, in das er von einer Schweizreise aus obskuren Gründen zurückkehrte. (Daß es allein die geliebte Mutter gewesen sein soll, die das bewirkte, wie die Autoren behaupten [S.171], ist ein wenig zu schlicht gedacht.) Kästner, Augenzeuge, als man seine Geisteskinder im Mai 1933 Unter den Linden und sonstwo dem Feuer übergab, erhielt bald darauf Publikationsverbot, wurde zweimal von der Gestapo verhaftet, warb dennoch zäh und mit (vorübergehendem) Erfolg um die Wiederaufnahme in den Reichsverband deutscher Schriftsteller. Zugleich aber war er kühn wie wenige der Dagebliebenen, trug in den Kriegsjahren in eine wohlgehütete Kladde Dinge ein, die ihm gut und gerne den Stempel des „Volksverräters“ und also die Todesstrafe hätten einbringen können. Beides gehört zu Kästner, und es ist wohltuend, daß es einmal nebeneinanderstehen darf, ohne daß psychologisch herumgedeutelt wird, um alles in eine einzige Formel zu fassen. Und wo man schlechterdings nicht umhin kann, geheime Seelenpforten aufzutun, da liefern Görtz und Sarkowicz den Beweis, daß man das tun kann, ohne psychologisch zu dilettieren, ohne moralisch oder apologetisch zu werden, daß man einfach das Material für sich sprechen lassen kann. Die Frau Mama, ziemlich kleiner Leute Kind, anverheiratet einem ungeliebten, blassen und glücklosen Handwerker, der nicht einmal die Ehre hatte, der leibliche Vater des berühmten Erich zu sein, die hatte nur eines im Sinn: das Glück ihres Sprößlings - sprich: den sozialen Aufstieg, der ihr selbst versagt war. Das Erstaunliche aber, das vielleicht Un erklärliche an dieser Beziehung ist, daß auch der berühmte Sohn, der glänzend doktorierte Germanist, der erfolgreiche Zeitungsmann, sich bis zum traurigen Tod der ewig kränkelnden Ida Amalia Kästner, geborene Augustin, niemandem anvertrauen konnte als eben diesem schlichten Gemüt: Täglich oft gingen die Briefe hin und her, Protokolle über jeden kleinen Erfolg und Mißerfolg, gleich ob pekuniärer oder amouröser Art, über wohlwollende Rezensionen, Verkaufszahlen und den wann und wie eingefangenen Tripper auf der einen, den Zustand der Socken und Bettwäsche auf der anderen Seite. Es gehört viel Takt und Einfühlungsvermögen dazu, derartiges nicht als „Neurose“ oder „Komplex“ zu apostrophieren, sondern einfach als Exzentrik den porträtierten Zügen eines kreativen Kopfes einzuverleiben.

Entstanden ist das Buch im Zuge der Arbeiten an der neuen Werkausgabe. Weil dazu zum erstenmal der Nachlaß Kästners ganz geöffnet wurde und man Datierungsfragen naturgemäß wichtiger nehmen mußte als bisher, nimmt es nicht wunder, daß eine ganze Anzahl von Episödchen und Histörchen, die Kästner-Biographen aus dem Munde des Dichters für bare Münze nahmen - allen voran Liselotte Enderle, die Lebensgefährtin der letzten Jahrzehnte - sich jetzt oft als hübsche und effektvolle Legenden entpuppen (Kästners Weg zum Journalismus zum Beispiel [S.46,52]). Auf einer Auktion erwarb man jetzt eine Schülerzeitung, in der einst erste Verse („Die Jugend schreit!“) des braven Buben den Weg zu einem Publikum fanden (S.33). Wir erfahren, daß der Theaterfanatiker Kästner Piscator, den über alles bewunderten, überredete, ihm für seine Zeitung die Entwurfszeichnungen von Walter Gropius zum „Neuen Theater“ zu überlassen, und viele Kleinigkeiten mehr.

Die Autoren sind gestandene Journalisten und so gehört ihr Herz zuallererst dem Zeitungsmann, dem Glossisten und Zeitkritiker Kästner. Wem es um den ganzen Kästner geht, wünscht sich hier und da mehr und tieferes zum Erzähler Kästner, doch wird er entlohnt mit einer feinen Charakteristik des „Meisters der Beiläufigkeit“, des effektvollen, am Stak-katostil der 20er Jahre orientierten Feuilletonisten Kästner. Nur einmal gehen die beiden Kästner-Enthusiasten im aufrechten Bemühen, für ihren Helden zu werben, so es die Wahrhaftigkeit irgend zuläßt, zu weit: „Jahre des wiederkehrenden Ruhms“ überschreiben sie das Kapitel über den Nachkriegsautor Kästner. Das Wort vom „Ruhm“, ja vom „Weltruhm“ fällt denn auch nicht nur einmal in diesem Abschnitt und, gewiß, Kästner war eine Größe in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit, man schätzte seine moralische Integrität, versah ihn mit Ehrungen, sogar mit dem Büchnerpreis. Und doch ist die Geschichte des Erich Kästner viele Nachkriegsjahre lang mindestens ebensosehr eine traurige, eine Geschichte des Scheiterns: Sein Bestes gab er in den ersten Nachkriegsjahren, beim Kabarett und als Feuilletonchef unter Hans Habe. Doch schon 1946 gab er das feste Amt auf, um ganz dem Schreiben zu leben. Schreiben aber hieß letzten Endes die Bewältigung der großen Form, des Schauspiels und des Romans, und Kästner gab Jahre daran. Doch als 1956 endlich die Schule der Diktatoren über die Bretter ging, blieben Publikum und Kritik kühl. Nur zu bald war das Stück aus den Köpfen und von Bühnen entschwunden, ohne große Spuren zu hinterlassen. Wir ahnen, daß das Kästner - der schon einmal, 1931, nach dem Achtungserfolg des Fabian am Roman gescheitert war (und statt dessen seinen zweiten Kinderroman hervorbrachte - tief getroffen haben muß: Es entstehen in den ihm verbleibenden Jahren, die doch seine eigentliche Reifezeit darstellen müßten, nur mehr Kleinigkeiten, zwei Kinderbücher, Sammlungen früherer Arbeiten, Notizen aus den Nazijahren. Der „Ruhm“, von dem Görtz/Sarkowicz künden wollen, den verdankte er ganz überwiegend seinen populären Kinderbüchern und deren Verfilmungen. Er genoß ihn wie schon vor dem Kriege, als er - naiverweise vielleicht, verdrossen von der ungeliebten Republik womöglich - davon träumte, Kinder seien schlichtweg die „besseren Erwachsenen“. Seine nicht geringen schriftstellerischen Ambitionen aber blieben zuletzt, wie schon einmal vor dem Kriege, uneingelöst. Wie schwer das wog, können wir dem Buch von Görtz und Sarkowicz, die es in diesem Punkte eben zu gut meinen mit ihrem Helden, nur indirekt entnehmen: Mit Ende fünfzig war Kästner ein schwerkranker Mann, der vom Alkohol nicht mehr lassen konnte, selbst dann, als ihn die zerrüttete Gesundheit ins Sanatorium zwang. Daß da etwas entzweigegangen war und jemand neben sich lebte, lassen uns die Briefe wissen, die er aus dem Krankenzimmer in die Welt schickte - launige Petitessen, leichthändig und wie zwanghaft überspielend, daß der Schreiber sich eigentlich schon aufgegeben hat.

Mitgefühl mit dem großen Kollegen war es wohl, das das Autorenduo hier, ganz gegen den sonstigen wohlabgewogenen Strich, die die Wirklichkeit in helleren Farben malen ließ. Eine verzeihliche, kleine Sünde, die uns daran erinnert, wie schwer die Tugend dieses Buches, die feine Balance zwischen Distanz und Einfühlung zu halten, zu bewerkstelligen war.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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