Eine Rezension von Eberhard Fromm


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Zeugnisse eines exzellenten Briefeschreibers

 

Ulrich Joost (Hrsg.): ... Ihre Hand, Ihren Mund, nächstens mehr
Lichtenbergs Briefe 1765 bis 1799.

Verlag C. H. Beck, München 1998, 476 S.

 

In der vom Beck-Verlag herausgegebenen „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ sind bereits eine Reihe bekannter und interessanter Titel aus allen Teilen Europas erschienen. Daß dazu auch ein Autor wie Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) gehört, muß eigentlich nicht weiter begründet werden. Der Herausgeber macht aber doch in seinem knappen Nachwort darauf aufmerksam, warum Lichtenberg und gerade eine Briefauswahl des Göttinger Gelehrten in dieser Bibliothek ihren Platz haben sollte. Und der Literaturwissenschaftler Joost (1951) weiß, wovon er redet; schließlich hat er zwischen 1976 und 1988 zusammen mit Albrecht Schöne den gesamten erhaltenen Briefwechsel Lichtenbergs in vier repräsentativen Bänden herausgebracht. Die hier aus den um 1 800 Briefen ausgewählten 120 Texte sollen in einer zugleich populär und wissenschaftlich gestalteten Ausgabe einen Einblick in die Lebenswelten des 18. Jahrhunderts liefern. Für Joost ist Lichtenberg ein Denker, der „die Sprache als autonomes Wesen auffaßte, ihr eigene Dynamik zubilligte - und vielleicht erstmals akzeptierte, daß sie sich anders und asynchron entwickelt als der Mensch, der sie gebraucht“. (S. 390)

Die Sammlung verzichtet auf einen größeren biographischen Abriß, da man davon ausgeht, daß zum 200. Todestag des Denkers 1999 eine Vielzahl neuer Titel zu der bereits breiten Lichtenberg-Literatur hinzukommen wird. Eine knappe chronologische Übersicht (S.399-402) gibt die Möglichkeit, die erforderlichen Zeitbezüge herzustellen. Das umfängliche Sach- und Personenverzeichnis (S. 403-476) ist für den Leser ein echter Gewinn, bekommt er doch einen Überblick vor allem über die Menschen, mit denen Lichtenberg in Verbindung stand bzw. über die er sich äußerte. Trotzdem hätte man sich - möglicherweise in einem ein wenig ausgeweiteten Nachwort - etwas mehr zur Persönlichkeit Lichtenbergs gewünscht. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht gewesen, wenn der Herausgeber den Verweis auf seine Arbeit über „Lichtenberg - der Briefeschreiber“ aus dem Jahre 1990 (S. 388) inhaltlich ausgedehnt hätte.

Die Briefe sind chronologisch geordnet. Sie beginnen - ein wenig im Unterschied zum Untertitel des Bandes - im Jahre 1770 mit einem Brief an den Göttinger Altertumsforscher Christian Gottlob Heyne (1729-1812) und enden mit einer kurzen undatierten Nachricht an die Tochter Margarete Elisabeth (1768-1848). Die Auswahl stützt sich auf Texte, die man hier unbedingt erwartet, bezieht aber auch Neues und Überraschendes ein. Viele der bekannten Briefe an namhafte Persönlichkeiten der Zeit - an Immanuel Kant, an Johann Wolfgang von Goethe, an Georg Forster und Friedrich Nicolai sind ebenso enthalten wie sehr private Mitteilungen; man lese nur den Brief (Nr. 61, S. 179 ff.) an den Freund Gottfried Hieronymus Amelung (1741-1800) über die Beziehung zu Marie Dorothea Stechard (1763-1782), den Lichtenberg mit der für ihn sehr seltenen Bitte beschließt „zerreißen Sie diesen Brief“.

Lichtenberg war ein exzellenter Briefeschreiber. Ob er von seinen Reisen über Orte und Menschen berichtet, ob er in einem wissenschaftlichen Disput seine Position erläutert oder ob er über kleine Begebenheiten, ja Nichtigkeiten des Alltags erzählt - stets verfolgt man mit Interesse und Vergnügen, wie hier mit der Sprache umgegangen wird, wie man als Leser, als heutiger Adressat einer Nachricht aus alter Zeit einbezogen wird in die Denkweise des Autors. Es ist daher besonders bedauerlich, daß wir es hier nicht mit einem Briefwechsel zu tun haben, in dem man aus den Briefen an Lichtenberg die wechselseitigen Beziehungen entwickeln könnte. Vielleicht wäre es nicht schlecht gewesen, dies an einigen Beispielen, wo solche Briefe existieren (z. B. Kant an Lichtenberg), zu demonstrieren.

Ein Wort noch zu den Anmerkungen (S. 295-383), die aus der Sicht des Herausgebers sicher seinem erklärten Ziel dienen sollen, die Sammlung populär und zugleich wissenschaftlich zu machen. Sie erscheinen mir jedoch in dieser Ausgabe zu umfänglich. Ich glaube, daß sie für den Leser, der die Briefe lesen will, zu speziell, manchmal durch die vielen Verweise auch zu kompliziert sind. Der wissenschaftlich Interessierte wird aber wohl in der Regel auf die Gesamtausgabe der Briefe und den für 1999 angekündigten Registerband dazu zurückgreifen. Statt der ausgedehnten Anmerkungen hätte ich mir eine kleine, aber treffende Bibliographie gewünscht, einen Leitfaden zum Weiterlesen. Auf jeden Fall stellt der Band eine Bereicherung der bei Beck erscheinenden „Bibliothek des 18. Jahrhunderts“ dar, in der neben Einzeltiteln, Autobiographien und Tagebüchern auch die Briefsammlung einen festen Platz einnimmt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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