Analysen . Berichte . Gespräche . Essays


Kurt Wernicke

Berlin-Schelte aus „hindsight“ und Zettelkasten

zu: Alexandra Ritchie: Fausts Metropolis. A history of Berlin.
Carroll & Graf Publishers, New York 1998, 1139 S.

Der Rezensent verdankt die prompte Zusendung des erst zum Weihnachtsgeschäft 1998 druckfrisch auf den amerikanischen Buchmarkt gelangten dickleibigen Werkes einem Sponsor in den USA - seinem „pen pal“ (Brieffreund), den er 1946 kennengelernt hat, als auf Initiative der amerikanischen Stadtkommandantur im viermächteverwalteten Berlin jeder Berliner Schüler, der am Englisch-Unterricht teilnahm, auf Wunsch die Adresse eines Gleichaltrigen in den USA zugeteilt erhielt, um - so wenigstens das angegebene Motiv - durch Korrespondenz seine Englisch-Kenntnisse verbessern zu können. Der Rezensent hat also, wie leicht nachzurechnen ist, nun bereits länger als ein halbes Jahrhundert Kontakt zu diesem Freund, und aus dem anfänglichen Sponsoring in Form von CARE- und PALMOLIVE-Paketen ist mit der Zeit ein mehr auf intellektuelle Inhalte gerichtetes Sponsoring und hier und da auch ein echter Austausch geworden - auch ein, unseres Wissens bisher noch nicht bearbeiteter, Aspekt Berliner Geschichte der Nachkriegszeit ...

Geht man nach dem Klappentext, dann haben wir es bei dem Vorliegenden mit einem Standardwerk nahezu epochaler Qualität zu tun, dem einfach nichts bezüglich Berlins in der Weite des Gesichtskreises wie an tiefschürfender Gelehrsamkeit gleichkommt. Solche verlegerischen Elogen sind bekanntlich nicht unüblich, aber wenn der Senior der Deutschland-Geschichtsschreibung in den USA, Gordon A. Craig (geb. 1913), dem Opus bescheinigt, das Thema sei bewunderungswürdig begriffen und herrlich erforscht, wird der Leser wahrhaft neugierig gemacht, was denn da als Ergebnis eines immerhin zwölfjährigen Stipendiums des renommierten Wolfson College der Universität Oxford an eine Wissenschaftlerin deutsch-britischer Herkunft (des Vaters Geburtsname ist Karl-Wilhelm Reiche; er ist weitläufig mit den Moltkes verwandt, und Autorin Alexandra will durch einige verschlüsselte Hinweise glauben machen, die Familie ginge auf das Berliner Patriziergeschlecht des 14./15.Jhs., Ryke, zurück. Die Mutter - deren Großvater General im Ersten Weltkrieg war - stammt aus den Kreisen der britischen „upper ten“) in die Welt entlassen wurde. Das ursprüngliche Ziel des Stipendiums war eine Doktorarbeit, die der Erforschung von politischer Manipulation des Geschichtsbildes gewidmet sein sollte; der Rezensent hat solche Anträge an betuchte amerikanische Stiftungen gesehen und kann sich ein Bild davon machen, was bei solchen Gelegenheiten an aufgeblasener Zielsetzung zu Papier gebracht wird. Bei R.s Stipendium gab offensichtlich den Ausschlag, daß (es war 1985, also noch Systemauseinandersetzung angesagt) das Beispiel der Geschichtsmanipulation nicht am britischen, französischen, polnischen oder japanischen Geschichtsbild festgemacht werden sollte, sondern an dem sich wandelnden der DDR. Den Vorwand zur Einreise und zum mehrmonatigen Aufenthalt in der DDR (konkret in Ost-Berlin, Prenzlauer Berg-Altbau) bot das Studium der Bach-Manuskripte in der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek - und weil das so gut klappte (das sonst millionenäugige MfS muß dauerhaft blind gewesen sein), wurde es 1987 anläßlich des Berliner 750-Jahre-Jubiläums gleich noch einmal wiederholt. Tatsächlich ist nach gründlichem Studium des Vorgelegten unter einem Gestrüpp von Faktographie aus einem offenbar riesengroßen Zettelkasten noch erkennbar, daß die Autorin einer Summe von Geschichtslegenden auf der Spur sein will - in erster Linie denen, die in der Berlin-Geschichtsschreibung gepflegt werden. Dabei wird allerdings auf Schattenboxen nicht verzichtet und die Unausweichlichkeit demonstriert, daß der selbstherrliche Umgang mit Fakten allzu schnell selbst wieder Legenden produziert.

R.s Auffassung, daß Berlin in der Weltgeschichte eine bestimmende Rolle gespielt habe, ist natürlich der verinnerlichten Erfahrungswelt einer im Kalten Krieg aufgewachsenen und geformten Zeitgenossin zuzuschreiben, für die eine Kennedy- oder Reagan-Rede in Berlin den Rang einer Weichenstellung der Weltgeschichte besaß. Das Bemühen, aus einer in die Vergangenheit zurückprojizierten, moralisch aus Klugheit und Weisheit der eigenen Gegenwart untersetzten Erfahrung (im Englischen mit dem unübersetzbaren Wort „hindsight“ belegt) ein dickes Buch aus Geschichtswissen, politischem Durchblick und moralischer Betroffenheit zu fabrizieren, führt dann allerdings immer wieder zu ausgewalzten Abschweifungen in deutsche und europäische Geschichte. So ist das Thema manchmal nicht mehr auseinanderzuhalten: Geht es um das große Ganze in Europa bzw. der Welt, oder geht es um Berlin? Gelegentlich ist es geradezu beeindruckend, wie schließlich nach Ausflügen in das kontinentale Geschehen wieder zu Berlin zurückgefunden wird: So haben die emotional aufwühlenden Schilderungen der Nazi-Verbrechen alle ihren Bezug zu Berlin darin, daß eben dort die Dienststellen angesiedelt waren, die die Scheußlichkeiten auf den Weg brachten! Das Image von Wissenschaftlichkeit, das man dem Werk wegen seines umfangreichen Anmerkungsteils auf den ersten Blick zugestehen möchte, verliert erheblich an Schärfe, wenn man sich die 2 277 Anmerkungen auf den dafür reservierten 210 Seiten näher besieht: Es sind sehr selten wissenschaftliche Belege für die Behauptungen im fortlaufenden Text, sondern zumeist Hinweise auf weiterführende oder zum Thema passende Literatur.

Der Titel des Buches bezieht sich auf eine Passage aus dem 4. Akt von „Faust“, II. Teil (Vers 1035 ff.), in der Mephisto eine Hauptstadt schildert - und wenn man will, kann man darin durchaus den Eindruck erkennen, den Goethe bei seinem einzigen Berlin-Besuch im Jahre 1778 von der preußischen Residenz empfangen haben muß: Der deutliche Gegensatz von mittelalterlichem Gepräge im alten Stadtkern (Alt-Berlin, Cölln) und der mit dem Lineal gezogenen Nüchternheit in den planmäßigen, vom Landesherrn initiierten Neustädten (Dorotheen- und Friedrichstadt) war ihm in Frankfurt, Straßburg, Leipzig, Wetzlar und Weimar nicht begegnet; diese Erfahrung muß bei Goethe prägend gewirkt haben. Den Gedanken, dem Mephisto-Zitat das Motto für eine Berlin-Geschichte zu entnehmen und damit bereits im Titel (der aber eigentlich alliterierend „Mephisto’s Metropolis“ heißen müßte) auf die Dialektik des Untersuchungsgegenstandes zu verweisen, muß man schon als gekonnt einschätzen und fragen, warum noch nie ein hiesiger Berlin-Historiker auf die Idee gekommen ist.

Das Hinterfragen gängiger Klischees im Geschichtsbild Berlins beginnt R. schon bei der Gründungsgeschichte der Stadt. Die Einbettung der Berlin-Geschichtsschreibung in die - zu Recht als Geschichtsapologetik verurteilte - nach 1871 fleißig an der preußischen Berufung zur Schaffung des (Klein-)Deutschen Kaiserreichs strickenden hohenzollerntreuen Historiographie von Sybel bis Treitschke und Hintze ist ein gewaltsames Konstrukt; denn die Polemik gegen Adolf Streckfuß als einen Vertreter der kleindeutschen Schule ist unangebracht: Die Erstausgabe „500 Jahre Berlin in Sage und Geschichte“ erschien schon in den sechziger Jahren. Auch als Vater des angeblichen Gründungsmythos, wonach Berlin ein wendisches Fischerdorf gewesen sei, steht er nicht zur Verfügung: Es scheint, daß R. in das Standardwerk des 19. Jhs. zur Berliner Geschichte (mit dem vom Verleger Goldschmidt dazugesetzten reißerischen Untertitel „Vom Fischerdorf zur Weltstadt“) gar nicht hineingesehen hat; denn Streckfuß macht auf Seite 1 seines Werks nur eine Fußnotenbemerkung, daß Berlin-Cölln aus Fischerdörfern entstanden sei - von wendischen Fischerdörfern steht dort nichts. Ausgehend von der vorgeblichen Streckfuß’schen Geschichtsverfälschung kommt um so überraschender die Behauptung, Berlin habe seit Streckfuß seinen Gründungsmythos aus der Leugnung seiner slawischen Vergangenheit bezogen: Das gibt Grund für lange Polemiken gegen deutsche Historiker und Volkskundler aus Kaiserzeit, Weimarer Republik und NS-Herrschaft, die den zwischen Elbe und Oder angesiedelten Slawen zivilisatorisches Niveau absprachen - d.h. gegen Autoren, die von der seriösen deutschen Forschung in Ost und West nach 1945 längst ad acta gelegt wurden. Offensichtlich ist der Autorin der Unterschied zwischen Berlin-Cölln und dessen Umland, das heute zu Berlin (R. als ausgewiesene Berlin-Expertin rechnet auch Teltow dazu!) gehört, verlorengegangen: daß die Niederlassungen Berlin und Cölln keine slawischen Vorgängersiedlungen hatten, ist bis dato eigentlich wissenschaftlich unbestritten! Leider fehlt auch eine Angabe, welche Literatur der Behauptung (S.23) zugrunde liegt, daß über die Jahrhunderte vieles geschrieben wurde, um Berlin von Anfang an eine prädestinierte Rolle in preußischer und deutscher Geschichte auf den Leib zu schneidern.

Zu den einzelnen Phasen Berliner Geschichte äußert A. R. dezidierte Ansichten, die z.T. durchaus eine Reihe gedanklicher Anstöße vermitteln. Einige kühne Hypothesen sind für eine seriöse Diskussion jedoch ungeeignet; so behauptet sie schlankweg, der „Berliner Unwille“ sei ein Mythos, der von Streckfuß erfunden worden sei, um seine Mitbürger über die Niederlage von 1848/49 hinwegzutrösten und ihnen eine demokratische Tradition einzureden. Daß die erhaltenen Dokumente aus der Zeit von 1442 bis 1448 eine recht eindeutige Sprache sprechen, scheint R. nicht anzufechten: Sie hat eben Fidicins Urkundensammlung nicht zur Hand genommen! Eine eigenwillige Interpretation wird auch (S. 238) zur Reformation vorgelegt: diese habe frühzeitig die Weichen für eine unvorteilhafte Konkurrenz des (weit zurückgebliebenen) Berlin mit den Städten im Westen und Süden Deutschlands gestellt, indem es durch das Luthertum zu einem Idealismus gelangt sei, der sich durch Anti-Rationalismus, Abscheu vor irdischen Freuden und tiefem Mißtrauen gegenüber dem dekadenten Westen - kurz: der Renaissance - definierte: Der offenbar rheinlandfixierte Blick der Autorin spart aus, daß z.B. Hamburg, Frankfurt a. M., Augsburg und Nürnberg ebenfalls lutheranisch geworden waren. Etwa auf der gleichen Ebene der Beweisführung liegt die Behauptung, die Kommunisten sonnten sich in einer Legende, wenn sie der Welt weismachten, die Nazis hätten sie verfolgt; denn tatsächlich habe Goebbels sich die Kommunisten zum Vorbild genommen (S. 386) - als schlösse das eine das andere aus! Selbst in etlichen Fällen legendenbildend, erzählt R. u.a. die Horror-Story, Berlin sei in den 1950er Jahren bekannt gewesen als die Stadt in der Welt, in der nichts und niemand war, was er schien, wo keine unschuldigen Unterhaltungen oder gelegentlichen Zusammentreffen als das genommen werden konnten, was sie oberflächlich schienen (S. 697) - also Berlin als die Wirklichkeit der Fiktion in den Agententhrillern zu erscheinen hat. Auch die exzessive Vorliebe für eine breite Ausmalung von Greuel- und Schreckensszenen in den verschiedensten Jahrhunderten (auch dann, wenn es keine gab, so z.B. die einfach erfundenen am Abend des Einzugs Napoleons in Berlin, 27.10.1806) und daran geknüpfte Folgerungen sind nicht seriös zu diskutieren, denn damit muß R. selbst fertig werden - evtl. auf der Couch eines Psychiaters. Erstaunt stellt man fest, daß bei aller Redundanz ganz bedeutende Einschnitte in die Berliner Geschichte nicht behandelt werden: Es fehlt jedes Wort über den Zäsuren setzenden „Calvinistentumult“ von 1615 (mit dem doch den calvinistisch gewordenen Hohenzollern die Konzession abgerungen wurde, daß ihre Untertanen den Glaubenswechsel nicht mitvollziehen mußten - die erste regierungsoffizielle Durchbrechung des Prinzips des Augsburger Religionsfriedens „cujus regio, ejus religio“ im Heiligen Römischen Reich); und der Leser erfährt nicht, wie denn Berlin aus der kurbrandenburgischen Residenz zur Haupt- und Residenzstadt der königlich preußischen Lande - also Preußens - mutieren konnte.

Dagegen sind etliche Thesen der Verfasserin durchaus aufzunehmen. Mit Recht wird (S.55f.) die hochgelobte „Berliner Toleranz“ nach 1670 in Frage gestellt, denn Katholiken und Juden wurden bekanntlich bis weit in das 18. Jh. hinein (und z.T. darüber hinaus) diskriminiert: Die Berliner ertrugen einfach - vielleicht zähneknirschend - die vom Landesherrn im Staatsinteresse anbefohlene Gleich- bzw. gar Bevorrechtigung der einwandernden, meist französisch-sprachigen Calvinisten; weniger gut ertrugen sie - das zeigen immer wieder Eingaben an den Landesherrn - die jüdische Konkurrenz. Nicht einfach wegzuwischen ist auch die Theorie, mit dem Soldatenkönig seien die Berliner eigentlich an den starken, alles richtenden Mann „da oben“ gewöhnt worden und hätten dafür die natürliche (jedenfalls - und das ist eben „hindsight“ - bei Briten, Amerikanern, Franzosen stets präsente!) Sehnsucht nach politischer Willensbildung aufgegeben (S. 53). Sicher hat R. auch recht, wenn sie (S. 97 ff.) die weitverbreitete Unterbewertung Berlins als bedeutendes Zentrum der deutschen Romantik anmerkt und die Umsetzung der romantischen Ideen in die politische Ideologie des Konservatismus und der Franzosenfeindschaft hervorhebt - nur weiß R., die nie eine Besatzungszeit erlebt hat, die Auspowerung Berlins durch die napoleonische Besatzerherrschaft und das tiefe Trauma dieser Erfahrungen beim besten Willen nicht einzuordnen (wobei sie noch, in Unkenntnis bekannter Details, die Besatzungszeit 1806-1808 und die Anwesenheit napoleonischen Militärs als Bundesgenossen 1812/13 zusammenwirft). Richtig sieht sie, daß entgegen der Geschichtslegende der kleindeutschen Schule nach 1871 die Erhebung von 1813 keineswegs - wie auch so gern über lange Zeit in der DDR adaptiert - eine Massenbewegung für ein nationales deutsches Vaterland war. Das Biedermeier ist sehr schön (S. 116 ff.) aus der tiefen Lethargie nach der Anspannung von 1813/14 und den hohen Idealen der Romantik vom hehren mittelalterlichen deutschen Kaiserreich erklärt. Allerdings ist die Verknüpfung von Schinkel und Biedermeier nicht bloß indiskutabel, sondern geradezu grotesk!

Schmunzelnd liest man (S. 157; S. 184 f.) R.s nicht schlecht belegte These, wo eigentlich der „typische Berliner“ seinen Ursprung hat: in der Massenzuwanderung während der Industrialisierungsperiode im 19. Jh., die ostelbische Deutsche, Polen und Tschechen durcheinandermischte und sie durch Armut und Angst, Fabriketagen und Mietskasernen zusammenschweißte. Daraus kultivierten die Zuwanderermassen im Überlebenskampf jene Grobheit und Gewitztheit, deren sich die Berliner Lokalpossen und die frühen Berliner Kabaretts mit Vergnügen annahmen und dem Besucher von außerhalb ausgiebig als Spezifikum präsentierten. Mit scharfem Blick charakterisiert R. (S. 207) die von der Berliner - wie von der deutschen - Großbourgeoisie im wilhelminischen Kaiserreich gezogene Schleimspur, auf der Orden und Titel als eine ausreichende Entschädigung für das einstmals ersehnte, aber leider eben vorenthaltene parlamentarische Regime angesehen wurden. Tiefer auszuloten wäre auch die Ansicht (S. 219), die angeblich attraktive große Kulturstadt Berlin habe durch den Abscheu Wilhelms II. gegenüber der neuen Kunst weit mehr Substanzverlust an Intellekt erlitten, als je zugegeben wurde - und dieser Fakt sei nicht unschuldig an der Tatsache, daß Berlin vor 1914 grau, häßlich und lächerlich gewesen sei...

Daß es der „Gründerkrach“ war, der aus der Enttäuschung über den Einbruch beim Akzeptieren des Modells der „westlichen“ Profithetze eine tiefverinnerlichte Ablehnung „westlicher“ (will heißen: demokratisch-parlamentarischer) Werte in der Berliner Gesellschaft verankerte (S. 237 ff.), dafür aber als Gegenposition die Kultivierung von Volkheit, Volkstum und Völkisch-Sein aufbaute - das läßt sich durchaus diskutieren, wenngleich der Rückgriff der Autorin auf Herder sehr an die Kausalketten bei Daniel Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ erinnert und beweist, daß man sich nicht ungestraft jahrelang mit der Untersuchung von Manipulation in der Geschichtswissenschaft beschäftigt. Das färbt schließlich ab und macht sich dann in moralischen „hindsight“-Kategorien bemerkbar, wie z.B. jener, die den im Kohlrübenwinter des Ersten Weltkrieges und in der Not der Nachkriegskrise leidenden Berlinern bescheinigt, sie hätten das bekommen, was sie verdienten; denn nirgends in einer Hauptstadt der Kriegsparteien sei 1914 der Begeisterungstaumel über den endlich ausgebrochenen Krieg so groß gewesen wie eben in Berlin (S.318). Daß die Legende von den Berliner „goldenen Zwanzigern“ als eine Mischung aus Fakt und Fiktion hinterfragt wird, ist seit Otto Friedrich („Before the deluge“, 1970) Gott sei Dank im anglo-amerikanischen Raum üblich und färbt von daher allmählich auch auf die Berliner Geschichte und Kulturgeschichte ab. R. folgt zu Recht dieser Spur, macht aber darauf aufmerksam, daß in Berlin nach 1945 die von Emigranten geschaffene Nostalgie noch extragroß aufgeblasen wurde, um auf eine Glanzperiode zwischen dem wilhelminischen und dem NS-Berlin zurückgreifen zu können, an die es wieder anzuknüpfen gelte (S.326). Die exponierte Lage West-Berlins in der Zeit des Kalten Krieges habe dort die verständliche Begierde geweckt, diese aus ihrer früheren Bedeutung als politisches und wirtschaftliches Zentrum entlassene Stadthälfte mit dem hypertrophen Glanz der zwanziger Jahre zu identifizieren - bloß habe das die Bevölkerung zumeist gar nicht berührt (was bei den unschönen Querelen nach Marlene Dietrichs Tod sehr deutlich zum Vorschein gekommen sei). Mit großer Zufriedenheit hat der Rezensent zur Kenntnis genommen, daß R. ungeschminkt den Standpunkt äußert, der Einfluß der liberalen Intellektuellen in der Weimarer Republik sei von der deutschen Emigration maßlos übertrieben worden, und das Register jener großen Namen des liberal-republikanischen Intellektuellenmilieus, die sich vehement der Verteidigung der Republik widmeten, sei ziemlich kurz: Bei ihnen habe „geile Mißachtung der politischen Realität“ (S. 358) vorgeherrscht. Aber dafür sei Modernismus weitgehend mit der geschäftlichen Ausnutzung des Ruchs der Amoralität gleichgesetzt worden. Die große Mehrheit der Berliner habe diese Mischung aus Nackt-Revuen und mit Glanz umgebener Homosexualität jedoch ebensowenig berührt wie sie die liberale und linke Literatur tangierte: Die Exzessivität der selbstverliebten Avantgarde blieb ihr fremd. Sie vermißte deren Verschwinden im Jahre 1933 auch nicht und hatte wenig Verständnis für die nach 1945 kolportierte Legende, 1933 sei „alles abgebrochen“, was heißen soll, die schöne modernistische Kulturtradition Berlins sei gekappt worden. R. verweist mit sehr viel Recht auf die tiefe Verwurzelung der von den Nazis gepflegten Massenkultur im wilhelminischen Berlin (Trivialliteratur, Film, Volkstheater, Massen- und Spektakelsport, Militärkonzerte, Vereinsmeierei, Zug ins Grüne), die dicht unter dem dünnen Firnis der Zwanziger-Jahre-Exzessivität auch die ganze Zeit der Weimarer Republik über gelebt habe und sich 1933-1943 (bis zum „totalen Krieg“) eines ungebrochenen regen Lebens erfreute. R. macht auf die kaum bekannte Tatsache aufmerksam, daß es der in der Bundesrepublik so hochgeschätzte Carl Diem als Generalsekretär des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen war, der in den zwanziger Jahren jene dann von Goebbels nur übernommenen gymnastischen Massenübungen weiblicher Jugend am Ort des späteren Olympiastadions und die geordneten Massenläufe junger Männer durch das Brandenburger Tor erfunden hat (S.374). In Anknüpfung an solche in der Masse der Berliner wohlgelittenen und in ihre Alltagsbedürfnisse integrierten Kulturphänomene ging das massenkulturelle Leben auch in NS-Berlin weiter, und für die breite Masse gingen die zwanziger ganz natürlich in die dreißiger Jahre über, die sich ab Frühjahr 1933 allenfalls dadurch von den davorliegenden Jahren unterschieden, daß die Arbeitslosigkeit fühlbar zurückging und der Lebensstandard - ganz im Gegensatz zu nach 1945 weiterkolportierten agitatorischen Zweckthesen der Anti-Nazi-Emigration aus der Zeit nach 1933 - stieg, was sich im Alltagsleben sehr zur Freude der Berliner bemerkbar machte.

Streng ins Gericht geht A.R. mit dem ahistorischen Geschichtsbild von Berlin als einer Bastion des Widerstands gegen das NS-Regime. „Tief in den Universitäten, im öffentlichen Dienst, den Schulen, dem Militär, den kleinen Geschäftsleuten, den Slums und den Mittelklasse-Vorstädten gab es Gruppen von Leuten, die ihre Wunden leckten und tiefe Ressentiments gegen die deutsche Niederlage, Versailles, den Verlust des Weltmachtprestiges, die unfähige Regierung, die fremden Künstler und Schreiberlinge in ihrer Mitte - und gegen die wachsende Kraft der Linken nährten. Hitler brauchte Berlin nicht zu unterwerfen: er fand eine breite Zuhörerschaft, die gierig war, ihn zu hören und ihm ihre Stimme zu geben.“ (S. 363) Recht überzeugend wird auch die These untermauert, daß der NS-Rassismus, -Antisemitismus und -Volkstumsrummel schon tief im Berlin der Weimarer Republik angelegt war, und daß das verbrecherische Euthanasie-Programm der Nazis seine geistigen Väter zumeist in Berliner Eugenikern und Anthropologen fand, ja sogar das renommierte Robert-Koch-Institut darin verstrickt war (S. 513). Der nach dem Fall einer Diktatur immer üblichen Schutzbehauptung, das Regime habe sich nur durch Terror und ein dichtes Netz von bevölkerungsüberwachenden Spionen halten können, setzt R. die aus Gestapo-Akten belegbaren Fakten (sehr instruktiv übrigens am Beispiel eines überschaubaren Territoriums: Mallmann/Paul, Herrschaft und Alltag, Bd. 2: Widerstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945, Bonn 1991) entgegen, daß das Denunziationssystem auf der Basis von Schadenfreude, Mißgunst und Ängstlichkeit viel besser funktionierte als ein bezahlter Spitzelapparat (S. 422 ff.). Dem von einstigen NS-Journalisten, die nach einer Wiederbeschäftigung gierten, nach 1945 verbreiteten Erzählchen, die Berliner Presse habe auch nach 1933 die äußersten Grenzen ausgeschritten, um Unabhängigkeit zu demonstrieren, erteilt R. eine strikte Absage. Über das bis in die Gegenwart überlebende Märchen, Swing-Fans oder Hermann-Göring-Witze-Erzähler seien verkappte Widerstandskämpfer gewesen, amüsiert sich R. geradezu: Sie macht darauf aufmerksam, daß selbst die Gestapo zwischen „gesunder Volksopposition“ und „Heimtückedelikten“ unterschied (S. 459 u. S. 1009, Anm. 123). Mit großem Ernst wird die Frage nach den Arisierungen und deren Verarbeitung in Berliner Firmengeschichten aufgeworfen ebenso wie die nach der Verarbeitung des offenbar als normal angesehenen Vorganges, daß im Zuge der Deportationen jüdischer Mitbürger Berliner antraten, um auf Versteigerungen das Eigentum der Verschleppten als billiges Schnäppchen zu erwerben. Für „an sich“ verdorben hält die Verfasserin die Berliner nicht (ohne W.S.Shirer zu nennen, distanziert sie sich in dieser Frage entschieden von dessen „Berliner Tagebuch 1944/45“), aber viele von ihnen waren eben „naiv, feige, gierig oder indifferent in einer Zeit, in der solches Schwachsein den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeutete“ (S. 432) - keine schlechte Charakteristik; aber eben auch „hindsight“ wie die Verdammung der Berliner dafür, daß sie inmitten der wütend rasenden NS-Todesmaschine weiterhin ihrer Arbeit nachgingen.

Einen Grund, sich ihres Widerstands zu rühmen, haben lt. R. nicht einmal die Widerstandskämpfer, die sie in die Kategorien kommunistisch, sozialdemokratisch, kirchlich und militärisch einteilt und darauf fußend kategorisch beurteilt: die erste war selbstmörderisch, die zweite bloßes Nachrichten-Sammeln, die dritte war durch Konkordat und Deutsche Christen gelähmt, die vierte schließlich verfolgte Gesellschaftsziele, die nicht mehr ins 20. Jh. paßten ...

Die über Hunderte von Seiten gehende moralische Abstrafung Berlins und der Berliner findet eine erstaunliche Unterbrechung mit dem Eintreffen der westlichen Besatzungsmächte in Berlin im Sommer 1945: Die Berliner, die eben noch Hitler, seiner Unterdrückungs-, Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie willig gedient haben, sind in kürzester Zeit zu Verfechtern westlicher Werte geworden, denn sie begrüßen herzlich die amerikanischen und britischen Truppen, die Anfang Juli in die Westsektoren einrücken; sie jubeln Churchill im Sommer 1945 bei dessen Besuch in der Reichstagsruine zu; sie (konkret allerdings nicht mehr als 18000 SPD-Mitglieder unter ca. 3 Mio. Berlinern) setzen mit ihrem Votum bei der Urabstimmung über die Vereinigung von KPD und SPD ein Zeichen für antikommunistischen Freiheitskampf, das bei den Oktoberwahlen 1946 von der Masse der Wähler vehement bekräftigt wird; sie stehen Seite an Seite mit den Verteidigern westlicher demokratischer Werte während der Luftbrücke und bestätigen damit eindeutig ihre Option für Freiheit und Demokratie. Bei diesem Vorgang bleibt allerdings R. mit ihrem Konzept einer Hinterfragung der tradierten Fakten und vordergründigen Abläufe bei der Benennung diskutabler Punkte erstaunlich schwach auf der Brust: Ob (unbestritten tradierter und von R. durch die Jahre seit 1917 regelrecht gefeierter) konsensueller Antikommunismus wirklich allein ausreicht, das kurzfristig eingetretene Wunder der Befreiung aus der Verstrickung einer seit dem Mittelalter bestehenden Hybris zu erklären, die dem Leser vorher explizit auseinandergesetzt wurde, bleibt offen, der Austausch von Häme gegen Idealisierung währt nicht lange: Da die Berliner durch ihre ganze Geschichte hindurch „bestenfalls politisch naiv“ (S. 813) waren, wird die Berliner-Schelte nur kurz unterbrochen. R. sieht Grund zu schwerwiegender Kritik an den Berlinern u. a. bei dem Konzept, die Frontstadt West-Berlin mit milliardenschwerem Sponsoring zu einem Mekka westlicher Kunst und Kultur zu machen: Es war angesichts des Provinzialismus der Stadt a priori auf Sand gebaut (S.791). Die Westberliner verhielten sich zudem nicht so, wie R. es aus ihrer „hindsight“ gern gesehen hätte: arrangierten sie sich doch nach ihrem Bekenntnis mit dem Westen, dessen Werten und dessen Fleischtöpfen sogar mit der Mauer, löckten wider den Stachel der NATO-Aufrüstung, des Vietnam-Kriegs und des Star-wars-Programms, ja, dachten verbrecherischerweise durch die Köpfe ihrer Politiker gar an langfristige friedliche Koexistenz - besetzten also keineswegs einen überzeugenden Leuchtturm der Freiheit im Roten Meer. Die Ostberliner hingegen profitierten von der Massierung aller DDR-Kommandozentralen in ihren Mauern und fanden zu Hunderttausenden Unterschlupf in den Büros von SED, DDR-Regierung und - natürlich - Stasi. So entlarvt die Autorin auch zum Ende ihres voluminösen geschichtlichen Überblicks noch die neueste Legende: Da der Fall der Berliner Mauer TV-gerecht weltweit als Symbol für das Ende der Teilung Europas aufgearbeitet wurde, wird weltweit auch angenommen, Berlin als sichtbarster Beweis für die Teilung des Kontinents, ja der Welt, habe irgend etwas Wesentliches zu diesem ganzen Prozeß beigetragen; aber das Gegenteil ist der Fall - weder Ost- noch West-Berlin agierten in der Umbruchsituation von 1989 in vorderer Reihe. Beide hatten für ihre Zögerlichkeit Gründe, und daß denen bei der exzeptionellen Stellung beider Stadthälften nicht blanke Wahnvorstellungen zugrunde lagen, hat sich inzwischen ja bewiesen. Auch diese These R.s ist nicht einfach vom Tapet zu wischen. Mit ihrem apodiktischen Urteil, daß sich die Mißlichkeiten der Vergangenheit in die vereinte Bundeshauptstadt hinübergerettet haben - der Westteil weiterhin mit dem Ruf behaftet, ein Zentrum für Drogensüchtige, Anti-Atom-Aktivisten und obskure „Künstler“ zu sein (die jetzt ihrem subventionierten Dasein im Schatten der Mauer nachtrauern); der Ostteil immer noch die arge DDR-Hauptstadt, in der einstige Stasi-Agenten und Regierungsschmierer umherschleichen - und die vereinten Berliner, weit davon entfernt, ihr Glück zu genießen, ihre Zeit damit zubringen, in wachsender Zahl Protestdemonstrationen zu veranstalten (S. 861) - mit diesem Urteil allerdings wissenschaftliche Objektivität bei der Betrachtung ihres Gegenstandes einzufordern, dürfte R. zumindest in Berlin etwas schwerfallen.

Neben solchen und einigen weiteren Thesen zur Berlin-Geschichte, die zumindest zur Nachdenklichkeit anregen, finden sich in dem Buch einzelne blendend geschriebene Abhandlungen zu speziellen Komplexen, so zur Industrialisierung mitsamt der Bedeutung der Eisenbahn als wesentlichem Faktor im Prozeß, zum Leben der städtischen Unterschichten in den Mietskasernenkomplexen, zum Aufstieg der Arbeiterbewegung, zur Militärtollheit des wilhelminischen Berlin, zum Alltagsleben im Ersten Weltkrieg, zum wirtschaftlichen und moralischen Verfall in der Inflation, zum Berliner Leben unter dem Bombenhagel alliierter Luftflotten, zu den Architektureskapaden in West-Berlin seit den sechziger Jahren. Allerdings ist mit Händen zu greifen, daß vieles davon faktisch nur abgeschrieben wurde - Berlin als Mietskasernenstadt mitsamt der standardisierten Verurteilung des Hobrecht-Planes jedenfalls wandelt sichtbar auf den Pfaden des umstrittenen Werks „Das steinerne Berlin“ von Werner Hegemann. Völlig danebengegangen ist das Unternehmen packender Schilderung der Märzrevolution 1848 - hier ist nicht einmal Adolf Wolff richtig abgeschrieben worden, ja, die Berufung auf diesen zeitgenössischen Standardautor der Revolutionsmonate erscheint angesichts der verworrenen Darstellung fast als ein Sakrileg. Aber diese Fehlleistung mag mit dem Abscheu der Autorin vor Revolutionen zusammenhängen, jedenfalls vor solchen, die nicht explizit antikommunistischer Natur sind - auch die Novemberrevolution kommt nicht gut weg: Am 9. November paradierte der Mob auf den Straßen, sang (igittigitt!) die „Internationale“ und wütete gegen die Repräsentanten des alten Systems (S.298 - eine Zahl für die dabei ums Leben gekommenen Repräsentanten des Hohenzollernreiches kann A. R. nicht nennen - aber sie deutet bewegt an, daß es solche Toten gab...). Scheidemanns Märchen von 1928, das inzwischen auch sozialdemokratische Historiker nicht mehr ernstnehmen - er habe durch die Ausrufung der Republik verhindert, daß Deutschland eine bolschewistische Sowjetrepublik würde -, fand sich natürlich in R.s Zettelkasten und wird dem Leser nun unreflektiert zugemutet.

Die Zahl der Zumutungen in dem Werk ist überhaupt endlos, denn mit den geschichtlichen Fakten nimmt es die Verfasserin nicht so genau - für sie ist die große Linie das vordringliche. Dabei wird in den Details unbesorgt geschlampt, und die Liste derartiger Fehlleistungen ist fast so lang wie die Seitenzahl des eigentlichen Textes. Daß Cölln und die Cöllnische Vorstadt ebenso verwechselt werden (S. 45) wie Spandau und Spandauer Vorstadt (S.62), Joachims II. Übertritt zur Reformation auf den 13.2.1539 gelegt wird (S.40), der Soldatenkönig als Gründer der Friedrichstadt auftaucht (S.61), der Zuwachs an Gewerbe durch die Hugenotten in die Zeit Friedrichs II. verlegt wird (S.70), der Freiherr von Stein als Franke und sein Geschlecht - mit den Steins von Kochberg (man hat etwas von Charlotte von Stein gehört!) in einen Topf geworfen - als thüringisch präsentiert wird (S.93); daß das Lützowsche Freikorps mit der Landwehr von 1813 und diese mit den Freiwilligen Jägern verwechselt werden (S. 112 f.; auch wird die Landwehr nur auf 20000 Mann beziffert), daß Savigny, Schelling und Tieck zu den „Göttinger Sieben“ gerechnet werden (S.126), daß Preußen nach 1815 eine Ost-West-Ausdehnung von 7500 Kilometern hatte (S.137), daß Friedrich Wilhelm IV. 1817 die Preußische Kirche der Union schuf (S.216), daß die Altmark und das Kammerdepartement Magdeburg als „Sachsen“ figurieren (Karte S.69) und das mecklenburgische Neubrandenburg 1650 zur Kurmark gerechnet wird (S.53), daß die Gewerbeausstellung von 1844 aus dem Zeughaus in den Treptower Park verlegt wird (S. 138), wo allerdings auch eine stattfand, aber 1896; daß die Margarine nicht in Frankreich, sondern in Berlin erfunden wird (S.147), daß die Deutschen im Krieg 1870/71 Paris vier Monate lang beschießen (S. 199), daß in einer Karikatur Wilhelm I. als Bismarck ausgegeben wird (zwischen S. 164 u. 165), daß der Kulturkampf 1864 ausbricht (S.217), die Siegessäule Schinkel zugeschrieben wird (S.285), Wilhelm I. 1887 (S.201) und Bismarck im Dezember 1897 sterben (S.253), daß Wilhelm und Karl Liebknecht zusammengewürfelt, die Freie Volksbühne und Piscators Proletarisches Theater in einen Topf geworfen werden (S.183), daß der „Kohlrübenwinter“ 1915/16 angesiedelt wird (S.275), die Aufstellung des „eisernen Hindenburg“ 1915 mit der Gründung der Vaterlandspartei 1917 in Verbindung gebracht wird (S.281), die 41 Toten und 105 Verwundeten, die Lüttwitz’ MG’s am 13.1.1920 vor dem Reichstag zum Opfer fielen, mit den Januarkämpfen 1919 vermengt werden (S.306), KPD und NSDAP 1930 die Preußen-Regierung stürzen (S.404), das „wilde KZ“ am Columbiadamm mit Erich Mendelsohns „Columbiahaus“ am Potsdamer Platz verwechselt wird, so daß über das Berliner Spezifikum reflektiert werden kann, daß in den der Folterhölle benachbarten Etagen das normale Großstadtleben weiterlief (S.415), daß die Wiedereinführung der Wehrpflicht auf den 11.März 1937 gelegt wird (S. 435), daß deutsche Soldaten in sowjetischer Kriegsgefangenschaft sofort ins GULAG kommen (S.602), daß die Beräumung der Berliner Straßen von Barrikaden und Schutt unmittelbar nach Kriegsende - weil von der sowjetischen Kommandantur angeordnet - Sklavenarbeit war (S.609), daß der weltweit beliebte Märchenfilm „Die steinerne Blume“ als Beispiel für langweilige sozialistisch-realistische Propaganda klassifiziert wird (S. 624), das Pfingsttreffen der FDJ von 1950 als ein zur Eroberung West-Berlins gedachter „Kinderkreuzzug“ enthüllt wird, der nur von den Sowjets gestoppt wurde (S. 681), daß am 17.Juni 1953 Volkspolizisten in eine Menge schossen, weil diese die westdeutsche Fahne schwenkte (S.685; als Expertin muß R. nicht wissen, daß 1949 bis 1959 beide Deutschlands dieselbe Nationalflagge hatten), daß den Westberlinern der Zugang in das Umland Berlins erst mit dem Mauerbau 1961 verwehrt wurde (S. 774) - alles das und vieles andere mehr muß sich der Leser gefallen lassen, um die Berliner-Schelte richtig genießen zu können. Der Höhepunkt an Schlampigkeit im Umgang mit den Fakten findet sich auf S. 415, auf der der pazifistische Publizist Kurt Hiller (1885-1972) Zeile 5 v.ob. die SA-Folterhölle überlebt und Zeile 11 v.unt. in ihr stirbt! Ja, bei Kapitel X stimmt nicht einmal die Zählung der Fußnoten mit der entsprechenden Zählung im Anmerkungsteil überein.

Ein besonderes - ein besonders trauriges! - Kapitel ist R.s Umgang mit ihrer Stellung als ausgewiesene Spezialistin für das Leben in der DDR: Schließlich hat sie ja aus ihrer mehrmonatigen Erfahrung Innenansichten und damit Urteile zu bieten. Wie diese aussehen, manifestiert sich an solchen Aussagen: „Die Menschen schleppten sich zu ihren geistlosen Arbeitsstellen in Fabriken und Büros in dem Bewußtsein, daß sie den Tag beenden würden mit dem Schlangestehen nach Brot oder Fleisch, oder nach den wenigen Gütern in westlicher Aufmachung, die in den ostdeutschen ,Boutiquen‘ zum Verkauf standen“ (S.727f.); „Wasser war auch schwer vergiftet: die Hälfte der Flüsse war allzu belastet, als daß man sie zur Trinkwassergewinnung heranziehen konnte... Nur 1 Prozent des Binnenseewassers konnte getrunken werden“ (S.754; wird R. jemals erfahren, daß - anders als wahrscheinlich in den englischen Midlands - auf deutschem Boden schon seit über 100Jahren kein Trinkwasser mehr ungefiltert aus Oberflächenwasser genommen wird?). Von dieser Qualität spulen sich die Horrorgeschichten über das Alltagsleben in einem Staat ab, der ein „groteskes“ Wohnungsbauprogramm (S.760) betrieb, und wo der überwachende Geheimdienst es viel leichter als in Polen (R. ist mit dem Sohn eines prominenten Solidarnosc-Aktivisten und zeitweiligen polnischen Außenministers verheiratet) hatte, weil er sich auf die Akzeptanz von Autorität und Fügsamkeit gegenüber den Machtausübenden verlassen konnte - selbst wenn das bedeutete, Informationen über Nachbarn, Familie und Freunde zu geben (S.758). Das lag mit Gewißheit daran, daß den Eltern schon sehr früh die Aufsicht über ihre Kinder entzogen wurde und diese bei der Jugendweihe statt einer Bibel Marx’ „Kapital“ in die Hand gedrückt bekamen (S.751) ... Schaudernd erinnert sich die zeitweilige Einwohnerin von Berlin-Prenzlauer Berg, daß die DDR-Kommunisten glaubten, frische Fassadenfarbe und ein gepflegter Vorgarten seien Teil einer unakzeptablen dekadenten bourgeoisen Welt (S.756). In dieser bestechend populärwissenschaftlichen Art bekommt die englischsprechende Leserschaft über viele Seiten eine ungeschminkte Innenansicht des Vorhofs der Hölle. Es mag sein, daß R. das für einen gerechten Ausgleich dafür ansieht, daß DDR-Waschpulver all’ ihre Wäschestücke grau-grün färbte (S. 757) - doch vielleicht bloß, weil sie die Gebrauchsanweisung nicht richtig verstand? (Denn das diskriminierte Waschpulver füllt ja jetzt unter dem alten Namen die Regale bundesdeutscher Supermärkte!)

Leider verpflanzt R. ihren schwachsinnigen Haß auch auf jenes Gebiet, das sie mit ihrem Stipendium eigentlich wissenschaftlich erforschen sollte: die politische Manipulation von Geschichtsdarstellung - und da desavouiert sie sich dermaßen gründlich, daß ein unabhängiges Gremium leicht eine Zurückforderung des Stipendiums beantragen könnte; denn ihr zweimaliger mehrmonatiger Aufenthalt in Ost-Berlin hat sie nicht an Basis-Werke der DDR-Historiographie heran-, sondern zu der abstrusen Behauptung hingeführt, von 1945 bis weit in die siebziger Jahre hinein sei es den Historikern und Propagandisten in Ostdeutschland ausdrücklich verboten gewesen, die DDR mit der deutschen Geschichte zu verbinden. Sie hätten statt dessen ihre Helden in der UdSSR und in der internationalen kommunistischen Bewegung zu finden gehabt (S. 728 ff.). Deutsche Geschichte war nach R. überhaupt ein Tabuthema, das nur im Kontext mit der Misere-Konzeption erwähnt werden durfte (S.741). In Ost-Berlin war das Bild der NS-Herrschaft faktisch ausgelöscht (S.735f.), und die Ermordung von 6000000 Juden wurde ignoriert (S.739). Es ist ja nicht abzustreiten, daß die DDR von ihren Machthabern als das staatlich gewordene Ziel antifaschistischen Widerstands begriffen und von daher die Verstrickung des überwiegenden Teils der älteren DDR-Bevölkerung in das NS-System - euphemistisch gesagt - unterbewertet wurde. Aber so plump wie R. dieses traurige Phänomen glaubt schildern zu können, war die Vorgehensweise dann doch nicht: Der Zweite Weltkrieg wurde ihr zufolge so dargestellt, als sei er von der UdSSR und der DDR auf der einen Seite, von der Bundesrepublik, den USA, Großbritannien und Frankreich auf der anderen geführt worden (S.737). Entgegen ihrem großzügig gesponserten Studienauftrag nahm sich R. also nicht die 12 Bände des „Lehrbuchs zur deutschen Geschichte /Beiträge/“, die 1959-1969 erschienen, zum Studium vor und übte sich an diesen in wissenschaftlicher oder politischer Auseinandersetzung - ihr Bezugspunkt ist Abuschs „Irrweg einer Nation“ (den sie nicht versteht, weil sie ihn nicht in seine Entstehungszeit im mexikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs einzuordnen vermag) und Wolfram von Hansteins (kein Historiker und, nebenbei gesagt, kein Marxist) obskure und sofort auf Widerspruch gestoßene Broschüre „Von Luther zu Hitler“ (1947). Doch geht ihr die darin vorgegebene Zerknirschung an der deutschen Geschichte bei einem konkreten historischen Gegenstand doch wieder nicht weit genug; denn sehr gereizt kommentiert R. ihre Erinnerung daran, daß ihr gegenüber bei der Vorstellung mehrerer einst von Bomben in Trümmer gelegter DDR-Stadtzentren bitter bemerkt wurde, die Bombenteppiche seien anglo-amerikanischer Herkunft und ein treffendes Charakteristikum imperialistischer Luftkriegsführung gegen Wohngebiete und Kulturzentren gewesen (S.738) - sie macht darin eine unverschämte kommunistische Geschichtsmanipulation aus! Aber bei der schlampigen Redaktion des umfänglichen Opus ist ihr ganz offensichtlich entgangen, daß sie selbst an ihr passender Stelle (S.535-537) scharf mit Bomber-Harris ins Gericht geht (an Churchill traut sie sich aus geschichtsmanipulatorischen Gründen nicht heran!) wegen seiner verfehlten Konzeption, durch Bombenterror gegen Wohnviertel die deutsche Bevölkerung zum Aufstand gegen Hitler zu bewegen ... Natürlich gehört ergänzend zu R.s Empörung angesichts dieses Themas auch der von ihr vermittelte Quatsch, in DDR-Geschichtsdarstellungen sei verschwiegen worden, daß die Nazi-Luftwaffe als erste Wohnviertel bombardierte (S. 738; wo war der Ort Guernica wohl bekannter - in Ost- oder in West-Berlin?)

1976 wurde dann nach R.s Erkenntnissen das Ruder im DDR-Geschichtsbild herumgerissen und alles Rühmenswerte in der deutschen Geschichte der DDR zugute geschrieben. Nun wurde der in Bonn geborene Beethoven als Ostdeutscher reklamiert und der in Halle/Saale geborene SS-Henker Heydrich zum Westdeutschen gemacht (S.742; zu allem Überfluß wird dieser hanebüchene Unsinn auf S.871 noch einmal wiederholt). Nun wurde Luther gefeiert, der bis dato aus der Geschichte getilgt oder allenfalls als Volksverräter und Fürstenknecht abqualifiziert worden war (S.741; die Geschichtsarbeiten zum 450. Jahrestag der Reformation im Jahre 1967 findet man natürlich nicht in den Literaturhinweisen - R. kennt sie trotz ihres Studienauftrags einfach nicht!), und dann kam Friedrich II. an die Reihe, dessen von den Kommunisten bewirkte Wiederauferstehung dazu führte, daß „von einem Tag zum anderen die alten Geschichtstexte verschrottet und von neuen ersetzt wurden, in denen der Herrscher nicht mehr als ein Feind des Volkes porträtiert wurde, sondern als sein Retter“ (S. 745). Der platte vordergründige Vergleich einer häufigen Präsenz von Friedrich II. im Erscheinungsbild der Stadt zum explizit von Gauleiter Goebbels geprägten Erscheinungsbild (ebda.) zielt aber offenbar nicht nur auf die verachtenswerte DDR-Hauptstadt der achtziger Jahre, sondern soll auch Bestrebungen im gegenwärtigen Berlin diskriminieren, sich der preußischen Vergangenheit nicht nur zu schämen ... Wissenschaftliche Studien an historiographischen Arbeiten von DDR-Autoren hat A. R. jedenfalls nach Ausweis ihrer Literaturanmerkungen so gut wie gar nicht betrieben (die betr. Literatur, die dann nachweislich noch falsch verarbeitet wird, wie z.B. beim Nachweis-Zitieren aus „Klassenkampf-Tradition-Sozialismus“, S. 503, umfaßt 17 Titel, darunter vier Bücher, sonst nur Aufsätze), und ihren Stipendiengebern sei die Vermutung nahegelegt, daß ihre Forschungen als Doktorand sich zu einem guten Teil auf das Studium des Ambiente und das Aufnehmen von Unmutsäußerungen der Boheme im „WC“ („Wiener Café“, Szenetreff des opponierenden Künstlermilieus im Prenzlauer Berg zu DDR-Zeiten) konzentrierten. Ergebnis: eine Unmenge - z.T. sogar wiederholter - Text mit denunziatorischen Behauptungen, aber so wenig wissenschaftlicher Substanz, daß er kaum gewogen werden kann, um zu leicht befunden zu werden.

Man kann nur hoffen, daß die insgesamt in seriöser Aufmachung und mit den besten Empfehlungen daherkommende, aber trotz einiger Denkanstöße als grandiose Fehlleistung einzuschätzende Arbeit nicht einen deutschsprachigen Verleger findet. Gewiß sein kann man sich nicht; denn mit Recht unterbreitet R. ihren Lesern die ja nicht wegzudiskutierende Tatsache, daß Berlin sich selbst bei einem beachtlichen Teil der Deutschen keineswegs großer Sympathie erfreut - was übrigens Berlins Vergangenheit wie Gegenwart umfaßt. Da die Autorin diese zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Klientel bedient, können wir uns aber zumindest darauf gefaßt machen, ihr demnächst in einer deutschen Talkshow zu begegnen. Wenn ihr ein Klappentext-Kommentator bescheinigt, daß sie verdient, mit diesem Werk einen Literaturpreis zu erstreiten, so kann man das - den USA-Literaturbetrieb berücksichtigend - demnächst auch erwarten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite