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Klaus Schuhmann

Herr Kästner blickt in die Zukunft oder Der Schriftsteller als Prophet

Es gehört gewiß nicht zu den landesüblichen Gepflogenheiten, daß ein Schriftsteller Leserbriefe so beantwortet, wie es Erich Kästner in seinem dritten Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft tat: mit einem Gedicht, in dem er sich pro domo zu Wort meldete!

Und immer wieder schickt ihr mir Briefe,
in denen ihr, dick unterstrichen, schreibt:
„Herr Kästner, wo bleibt das Positive?“
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

Nachdem er seinen Lesern einige Strophen lang vorgehalten hat, wie gerne sie sich selbst belügen und belügen lassen, kommt Kästner auf das eigentliche Dilemma - wir befinden uns ausgangs der zwanziger Jahre - seiner Zeit zu sprechen, die es ihm so schwer macht, wie gewünscht vom „Guten und Schönen“ zu schreiben:

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich’s hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?

Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.

...
Die Zeit liegt im Sterben. Bald wird sie begraben.
Im Osten zimmern sie schon den Sarg.
Ihr möchtet gern euren Spaß dran haben ...?
Ein Friedhof ist kein Lunapark.

Welche Gründe es noch für ihn gab, sich und seinen Lesern nichts vorzumachen, steht in anderen Gedichten aus dieser Zeit geschrieben, die „Jahrgang 1899“ überschrieben sind oder seinen Lebenslauf skizzieren und eines seiner Grunderlebnisse umkreisen, das immer wieder zur Sprache gebracht wird. Es ist der Erste Weltkrieg, für den er ausgebildet wurde, ohne die Frontkämpfe erleben zu müssen, genug Erfahrungsstoff, um zu wissen, was Krieg ist und was er Menschen anzutun vermag. Daraus erklärt sich auch seine Hellhörigkeit gegenüber kriegerischen Tönen und sein Vorstellungsvermögen denen gegenüber, die den verlorenen Krieg durch einen neuen in einen letztendlichen Sieg ummünzen wollten. Es nimmt sich zwar wie ein Paradoxon aus: Der Dichter, der sich hier zum „Schwarz“-Sehen bekannte, sah hell, und es zeichnete seine Art, die Leser zu warnen, aus, ihnen die Zukunft in dunklen Farben zu malen, gleichsam vorwegnehmend in Szene zu setzen, wozu die Phantasie seiner Zeitgenossen nicht ausreichte. Dieses Schreibkonzept zieht sich wie ein roter Faden durch die Gedichtbände, die Kästner zwischen 1928 und 1932 seinen Lesern schenkte. Der Verfasser dieser Bücher war nichts weniger als ein prophetischer Dichter alten Stils, der sein Wissen als „Seher“ höheren Mächten verdankt, sondern ein Aufklärer, der Dummheit erkannte und auf Vernunft baute. Zumindest auf die eigene. Was er voraussagte, entsprang gewiß einem Mangel an Zukunftsgläubigkeit, gründete sich dafür aber um so mehr auf die Gabe zu sehen, zu hören, zu urteilen und klar in Worte zu fassen. „Indirekte Lyrik“ nannte er das, womit umschrieben wurde, was er in den „Prosaischen Zwischenbemerkungen“ seines Gedichtbuches „Lärm im Spiegel“ bescheiden als seine Poetik dazu gab.

Im ersten Gedicht mit Zukunftsschau gebraucht der Verfasser noch das Wort „Fantasie“ für das, was er für „übermorgen“ prognostizierte: einen Krieg, der nicht stattfand:

Und als der nächste Krieg begann,
da sagten die Frauen: Nein!
und schlossen Bruder, Sohn und Mann
fest in der Wohnung ein.

Dann zogen sie, in jedem Land,
wohl vor des Hauptmanns Haus
und hielten Stöcke in der Hand
und holten die Kerls heraus.

Sie legten jeden übers Knie,
der diesen Krieg befahl:
die Herren der Bank und Industrie,
den Minister und General.

Da brach so mancher Stock entzwei.
Und manches Großmaul schwieg.
In allen Ländern gab’s Geschrei,
und nirgends gab es Krieg.

Die Frauen gingen dann wieder nach Haus,
zum Bruder und Sohn und Mann,
und sagten ihnen, der Krieg sei aus!
Die Männer starrten zum Fenster hinaus
und sahn die Frauen nicht an ...

Was hier für „übermorgen“ vorausgesehen wird, hat sich - freilich nur in der Literatur - schon einmal in grauer Vorzeit zugetragen und ist als Komödienstoff nach Kästner von Rolf Hochhuth noch einmal als kriegverhindernde Alternative weiblichen Handelns auf die Bühne gebracht worden. Beim Lesen des Gedichts wird man verführt, das nur vorgestellt positive Beispiel für die Wirklichkeit zu halten, wäre da nicht das Wort „Fantasie“, das den Autor dieses Gedichts davor bewahrt, als blind oder gutgläubig gescholten zu werden. Kästner kannte seine männlichen Pappenheimer gut genug, um sie in dieser Vorausschau als noch immer undankbar ihren Frauen gegenüber zu zeigen. Mit gutem Grund, wie ein einige Jahre später geschriebenes Gedicht beweist, das eine andere Zukunftsvision entwirft: die eines gewonnenen Krieges, der in Wahrheit 1918 verlorenging:

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
mit Wogenprall und Sturmgebraus,
dann wäre Deutschland nicht zu retten
und gliche einem Irrenhaus.

Man würde uns nach Noten zähmen
wie einen wilden Völkerstamm.
Wir sprängen, wenn Sergeanten kämen,
vom Trottoir und stünden stramm.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
dann wären wir ein stolzer Staat.
Und preßten noch in unsern Betten
die Hände an die Hosennaht.

Die Frauen müßten Kinder werfen.
Ein Kind im Jahr. Oder Haft.
Der Staat braucht Kinder als Konserven.
Und Blut schmeckt ihm wie Himbeersaft.

Wenn wir den Krieg gewonnen hätten,
dann wäre jeder Himmel national.
Die Pfarrer trügen Epauletten.
Und Gott wär deutscher General.

Erich Kästners Vorstellungsvorrat reicht noch für drei weitere Strophen, dieses Zukunftsbild auszumalen, ehe in der fünfzeiligen Schlußpartie des Gedichts dieses patriotische Horrorbild von deutscher Republik als „zum Glück“ nicht wahr geworden im Kopf des Lesers wieder gelöscht werden kann:

Dann läge die Vernunft in Ketten.
Und stünde stündlich vor Gericht.
Und Kriege gäb’s wie Operetten.
Wenn wir den Krieg gewonnen hätten -
zum Glück gewannen wir ihn nicht!

Daß der Prophet in einigen Punkten gar nicht so weit über seine Zeit hinausgegangen war, bewahrheitete sich schon ein Jahrzehnt später, als der zweite Krieg begann und seinen Lauf nahm. Mit diesem Text war Kästner aber schon einigen Herrn zu nahe getreten, die den zurückliegenden Krieg - den verlorenen - noch im Magen hatten und patriotisch aufstießen. Dem Verfasser schien es ratsam, es für einige Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. In der Werkausgabe informiert eine „Anmerkung“ darüber: „Das ,Glück‘ der letzten Zeile wurde für eine Art Jubelruf gehalten und war doch eine sehr, sehr bittere Bemerkung. Nun haben wir schon wieder einen Krieg verloren, und das Gedicht wird noch immer mißverstanden werden.“

Verglichen mit dem nahezu fröhlichen Treiben der Frauen in „Fantasie von übermorgen“ wird in diesem Gedicht ein Land gezeigt, wo die Männer ganz auf ihre Kosten kommen: als Soldaten nämlich, die immer kriegsbereit zu sein haben. Was sie in Friedenszeiten zu tun hätten, konnte Kästner aus eigener Kasernenerfahrung beisteuern (sein Sergeanten-Erlebnis findet sich im Gedicht „Sergeant Waurich“).

Noch einmal kommt „das Glück“ zu Hilfe und gibt dem Gedicht eine Wendung, die auf das Erschrecken das Aufatmen folgen läßt. Das ist beim Gedicht „Das letzte Kapitel“ aus dem dritten Gedichtband nicht mehr so. Jetzt ist von Zukunft nämlich in der Art eines Propheten die Rede, der seine Voraussagen an Jahreszahlen bindet:

Am 12. Juli des Jahres 2003
lief folgender Funkspruch rund um die Erde:
daß ein Bombengeschwader der Luftpolizei
die gesamte Menschheit ausrotten werde.

Die Weltregierung, so wurde erklärt, stelle fest,
daß der Plan, endgültig Frieden zu stiften,
sich gar nicht anders verwirklichen läßt,
als alle Beteiligten zu vergiften.

Zu fliehen, wurde erklärt, habe keinen Zweck.
Nicht eine Seele dürfe am Leben bleiben.
Das neue Giftgas krieche in jedes Versteck.
Man habe nicht einmal nötig, sich selbst zu entleiben.

Was in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges zur nicht mehr bezweifelbaren Wirklichkeit einiger Frontabschnitte geworden war, ist hier in eine Zukunftsdimension gerückt, die weit darüber hinaus geht. Es findet gar kein Krieg mehr statt, sondern die „Luftpolizei“ handelt im Auftrag einer „Weltregierung“. Hinter der Utopie einer technisch machbaren Vernichtungsaktion steht ein offenbar politisches Kalkül: das der totalen Vernichtung der Menschheit. Das ist nun wirklich eine Art totaler Krieg, zumindest von der geplanten Wirkung her. Wer die „Bomberschwärme“ des Zweiten Weltkriegs am deutschen Himmel gesehen hat, wird gar nicht mehr als so unmöglich ansehen, was Kästner nun an Vorstellungskraft in die Zukunft hineinlegt:

Am 13. Juli flogen von Boston eintausend
mit Gas und Bazillen beladene Flugzeuge fort
und vollbrachten, rund um den Globus sausend,
den von der Weltregierung befohlenen Mord.

Die Menschen krochen winselnd unter die Betten.
Sie stürzten in ihre Keller und in den Wald.
Das Gift hing gelb wie Wolken über den Städten.
Millionen Leichen lagen auf dem Asphalt.

Jeder dachte, er könne dem Tod entgehen.
Keiner entging dem Tod und die Welt wurde leer.
Das Gift war überall. Es schlich wie auf Zehen.
Es lief die Wüsten entlang. Und es schwamm übers Meer.

Was für die Menschheit nach dem Abwurf der ersten Atombombe überhaupt erst denkbar wurde, nimmt Kästner um mehr als ein Jahrzehnt vorweg. Auch das Wort, das die neue Dimension der Vernichtung bezeichnet, gab es damals im üblichen Sprachgebrauch noch nicht: Genozid. Was in der Vorstellungswelt dieses Schriftstellers als technisch machbar angenommen wird, ist durch den heutigen Stand der Waffentechnologie schon zur Realität geworden. Wirken die noch folgenden Strophen vor allem durch die drastische Darstellung eines Vernichtungsszenarios erschreckend, geht die gebremste Schockwirkung der letzten Strophe eher von der naheliegenden Erkenntnis aus, diese „Menschheit“ habe es am Ende so gewollt. Daraus darf der Leser durchaus schließen, daß es nicht mehr die von Kästner bekämpfte Dummheit ist, die die Menschen so weit gebracht hat, sich regierungsamtlich austilgen zu lassen, sondern methodischer Irrsinn die „Weltregierung“ so weit getrieben hat, ihr Machtmonopol zu mißbrauchen:

Jetzt hatte die Menschheit endlich erreicht, was sie wollte.
Zwar war die Methode nicht ausgesprochen human.

Damit war das Thema für Kästner noch immer nicht erschöpft, und auch die Zeitläufe waren nicht besser geworden, um davon abzulassen. Im Gedichtbuch „Gesang zwischen den Stühlen“ wird deshalb noch einmal dazu Anlauf genommen, diesmal in einem Dialog, der unter der Überschrift „Das ohnmächtige Gespräch“ stand, also zwei sprechende Personen voraussetzt: den Chronisten und den Frager, der eine darauf aus, die geringen Aussichten einer Weltverbesserung unter Beweis zu stellen, der andere noch immer mit der Hoffnung im Bunde, der Welt ein anderes Gesicht geben zu können.

Nach dem ersten Redewechsel nähert sich das Gespräch wieder dem Krieg, den der Chronist für das Jahr 1940 voraussagt: Er entgegnet deshalb auch dem Frager:

Drum jage dein Gewissen fort.
Es kann das Schießen nicht vertragen.
Du liebst die Menschen bis zum Mord?
Wirf dein Gewissen über Bord.
Ich weiß Bescheid und darf das sagen.

Du willst versuchen, was wir längst versuchten.
Es war uns nicht genug, daß wir die Macht
und ihre Kerle kunstgerecht verfluchten
und im Register unsrer Zeit verbuchten.
Wir wollten mehr. Wir haben mehr vollbracht.

Im Jahre 1940 waren
die Herren der Erde wieder mal soweit.
Sie litten an zu vielen Friedensjahren,
zogen die Völker heftig an den Haaren
und brauchten wieder eine große Zeit.

Man ließ verschiedne Gegensätze klaffen,
weil so ein Schlachtfest Gründe haben muß.
Man gab den Völkern die modernsten Waffen,
ließ beides an die Landesgrenze schaffen,
und etwas später fiel der erste Schuß.

Obwohl bis dahin alles auf eine schlimme Wendung wie im Gedicht zuvor hindeutet, läßt Kästner noch einmal ein Wunder geschehen, wie es in der Wirklichkeit nicht vorkommt: „zweiundzwanzig Generäle“ fallen, bevor der Krieg überhaupt beginnt.

Die wenigen Jahre bis 1933 reichten aus, sich von solchem Wunderglauben endgültig zu verabschieden. Das geschah zunächst in der „Neuen Leipziger Zeitung“, für die Kästner seit den zwanziger Jahren schrieb, mit dem Gedicht „Alter Herr, anno 1970“, also wiederum mittels eines Vorgriffs in die Zukunft.

Diesmal spricht einer aus eigenem Erleben und nennt sich nicht Chronist. Es ist vielmehr ein Zeitgenosse, der jetzt das Wort nimmt:

Ich könnte euch Verschiedenes erzählen,
was nicht in euren Lesebüchern steht.
Geschichten, welche im Geschichtsbuch fehlen,
sind immer die, um die sich alles dreht.

Wir hatten Krieg. Wir sahen, wie es war.
Wir litten Not. Wir sah’n, wie sie entstand.
Die größten Lügen wurden offenbar.
Wir sah’n das Menetekel an der Wand.

Wir hofften. Doch die Hoffnung war vermessen.
Und die Vernunft blieb wie ein Stern entfernt.
Die nach uns kamen, hatten schnell vergessen.
Die nach uns kamen, hatten nichts gelernt.

Es ist, als zöge Kästner hier schon die Bilanz des Zweiten Weltkrieges, von dem damals nur eine Partei sprach, die ihn mit der Wahl Adolf Hitlers kommen sah.

Dieses Gedicht war am 18. Januar 1933 gedruckt worden (und kam schon nicht mehr in einen Gedichtband hinein), der eigentliche Abgesang aber, wieder als Vorausschau in die Zukunft angelegt, erschien am 24. Mai 1932 in der „Weltbühne“ in Berlin und war in Prosa verfaßt, als fiktiver Brief, den ein gewisser Herr einer gewissen Dame schrieb. Wieder nennt Kästner eine Jahreszahl im Titel „Brief aus Paris, anno 1935“), (adressiert ist die Epistel „An Waltraud Gräfin Rassow, Potsdam, Heerstr. 8“). Als Datum des Poststempels kann der 12. Juni 1935 angenommen werden. Was hat sich - nach Kästner - damals in der Welt ereignet?

In Deutschland und in Frankreich vor allem. Aus einigen Briefpassagen ist es zu entnehmen: „Mit Botschaft telephoniert. Sind reisefertig. Koffer gepackt. Niederwerfung des Hamburger Arbeiteraufstandes durch Nationalgarde hat Quai d’ Orsay sehr verstimmt. Soll viel Geld hineingesteckt haben. Versteht nicht, wieso deutsche Arbeiter auf deutsche Arbeiter schießen. Abstoßend rationales Denken hierorts. Abends mit Bannermann gebummelt. Mit Taxi Montparnasse. Komischer Chauffeur. Deutscher. Ehemaliger Schriftsteller. Arzt auch. Döblin oder ähnlich. Seinerzeit bei Machtübernahme ausgewiesen worden. Entsinne mich dunkel an Prozeß. Evangelische Kirche gegen Pazifisten oder so. Fünf der Kerls verknackt. Rest über die Grenze. Gastgeschenk an Erbfeind. Besagter Döblin, miserabler Chauffeur übrigens, brachte uns ins Deutsche Lokal. Emigranten en gros. Bewirtschaftet von Gebrüder Mann. Der eine hinter der Theke. Thomas Vorname, Nobelpreisdiplom überm Ofen. Bruder im Cutaway. Quasi Empfangschef. Ganz gute Manieren. So wie seinerzeit russische Großfürsten in Berlin. Natürlich nur annäherungsweise. Deutsche Kellnerinnen-Bedienung. Auch Literatur. Gewisse Marieluise Fleißer beispielsweise. Ein Herr Mehring sang deutsche Chansons. ,Deutsch‘ ist übertrieben. Sammelte anschließend per Mütze. Oberst Bannermann wollte randalieren. Begreiflich, aber nicht opportun. Hielt ihn mühsam zurück. Apropos, gewisser Mühsam sang auch. Schandschnauzen, die Kerle, Hammelbeine mal gehörig langziehn sehr am Platze, leider keine Gelegenheit. Gehören kaserniert und gedrillt, bis Intellekt durch die Rippen geschwitzt! Zweihundert Kniebeugen bei vierzig Grad Celsius, Geburt des Patriotismus bloße Zeitfrage. Wetten daß?“

Mögen Details und Namen im Einzelfall nicht stimmen, in der Hauptsache sagte Kästner voraus, was nach 1933 geschah: Die namhaftesten deutschen Schriftsteller gingen ins Exil und hielten sich 1935 in der Tat noch zum Großteil in Frankreich auf, wenn auch nicht immer in der Hauptstadt, andere waren verhaftet und interniert worden, und einer von ihnen lebte 1935 schon nicht mehr, den Kästners „Gewährsmann“ in Paris noch singen hörte. Aufstände unter Arbeitern gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Diejenigen, die dafür in Frage gekommen wären, waren enthauptet oder ins Gefängnis gebracht worden (darunter auch Willi Bredel, an den Kästner gewiß nicht dachte). 1934 hatte Hitler schließlich auch in der SA dafür gesorgt, daß dort niemand mehr wider den Stachel löckte. Graf Rassow konnte in der Tat zufrieden sein und sich seiner Tage in Paris freuen.

Für Erich Kästner dagegen begannen schwierige Jahre im Land seiner Geburt, wo er sich alsbald der Aufmerksamkeit von amtlichen Stellen erfreute, die darauf achteten, daß Gedichte wie die hier zitierten - wenn er sie denn geschrieben hätte - nicht veröffentlicht wurden.

Eines seiner Gedichte, nun Teil eines Nachkriegskabarettprogramms, erschien unter dem Titel „Ein alter Herr geht vorüber“ 1946 in der wieder erscheinenden „Weltbühne“, in der einst nicht wenige seiner Gedichte gedruckt worden waren. Damals hieß es „Alter Herr, anno 1970“. Die Schlußstrophe, die er 1933 dem Gedicht gegeben hatte, konnte bis auf wenige Änderungen die gleiche wie damals bleiben:

Und nun kommt ihr. Ich kann euch nichts vererben.
Macht, was ihr wollt. Doch merkt euch dieses Wort:
Vernunft muß sich ein jeder selbst erwerben,
und nur die Dummheit pflanzt sich gratis fort.
Die Welt besteht aus Neid und Streit und Leid.
Und meistens ist es schade um die Zeit.

Geschichte wiederholt sich nicht! Oder doch? Allenfalls, sagen wir es noch einmal mit Worten von Erich Kästner, in dem Land, „wo die Kanonen blühn“.

Quellen:
Erich Kästner. Werke Bd. 1-9
Bd. 1: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte
Bd. 6: Splitter und Balken. Publizistik
Carl Hanser, München 1998, Taschenbuchausgabe


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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