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Helmut Hirsch

„Sich deutliche Begriffe von Berlin verschreiben“

Zum 200. Todestag von Georg Christoph Lichtenberg am 24. Februar 1999

 

Es ist aller Untersuchung wert,
woher die Bilder stammen, die
wir uns von Leuten formieren,
die wir nie gesehen haben; die
Formen von Straßen und Städten,
die wir nie gesehen haben.

Georg Christoph Lichtenberg

Die Wissenschaftsgeschichte, insonderheit die Physik, weiß heute von ihm kaum mehr, als daß er die Zeichen + und - für Elektrizität eingeführt hat, in deren Folge die Entwicklung der Elektrophotographie und der modernen Kopierverfahren steht. Unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts genießt er indessen einen anhaltend guten Ruf: „Daß er nichts abrunden mag, daß er nichts zu Ende führt, ist sein und unser Glück: so hat er das reichste Buch der Weltliteratur geschrieben. Man möchte ihn immerzu für diese Enthaltsamkeit umarmen.“ So feurig und ironisch lobte Elias Canetti einen der bedeutendsten Experimentalphysiker des 18. Jahrhunderts, den unübertrefflichen Sudelbuchschreiber und Satiriker Georg Christoph Lichtenberg. Ihm galt der Mensch als „ein Ursachen suchendes Wesen“, als vortrefflicher Beobachter aller Welt-Dinge betrieb er gründlich die alten Wissenschaften (vor allem Logik, Mathematik, Geometrie, Astronomie und Physik), die neueren hingegen (Pädagogik, Psychologie und Ökonomie) interessierten ihn nur insofern, als sie ihm seinen Professorenalltag in Göttingen und seine persönlichen Zustände und Beschwernisse erklärten. Ihm wurde alles wichtig, was nah oder fern sich ereignete, er observierte alte Sterne und junge Mädchen, kartographierte niedersächsische Städte für den englischen König, studierte in London das Leben und Treiben einer Weltstadt. Als praktizierender Aufklärer gab er Almanache und Taschenkalender heraus. Als Autor fand er hier ein zweites Experimentierfeld für populäre Vermittlungen und persönliche Späße. Im Göttinger Taschen Calender hatte er über zwei Jahrzehnte ein ideales Wort-Feld, es hieß „Neue Erfindungen, Moden, physikalische und andere Merkwürdigkeiten“. Alles wurde ganz spielerisch und dennoch frappierend deutlich von ihm gesehen: „Wenn Scharfsinn ein Vergrößerungsglas ist, so ist der Witz ein Verkleinerungsglas. Glaubt ihr denn, daß sich bloß Entdeckungen mit Vergrößerungsgläsern machen ließen? Ohne Witz wäre eigentlich der Mensch gar nichts, denn Ähnlichkeit in den Umständen ist ja alles, was uns zur wissenschaftlichen Erkenntnis bringt.“

Ohne Witz wäre Lichtenbergs Leben nahzu undenkbar gewesen. In seiner „Haushaltung für Empfindung und Geschmack“ vereinigte er Maximen und Ideen, Erfahrungen und Wünsche. Nur einige knappe Beispiele mögen das verdeutlichen: „Das Maß des Wunderbaren sind wir“ - „Alle unsere besten Gedanken haben wir in einer Art von Fieberrausch“- „Wie kann dieses 1000mal Gesagte wieder neu gesagt werden“ und „Beweise müssen Späße sein“.

In seinem meist dichtbesetzten Hörsaal (eine größere Stube nur gleich neben der Wohnung im Hause des Freundes und Verlegers Johann Christian Dieterich) hat er etwa sechshundert verschiedene Versuche angestellt. Dazu setzte er Elektrisiermaschinen in Gang, füllte reinen Wasserstoff in Schweins- und Kälberblasen und ließ sie vom Experimentiertisch auffliegen. Mitunter erbebte der Saal unter Knallgasexplosionen. Dennoch, ein Erfinder war Lichtenberg nicht. Nur einmal entdeckte er bei elektrostatischen Versuchen ganz eigentümliche, aus Harzmehlstaub hervortretende Gebilde, die er Lichtenbergische Staubfiguren nannte. Ein Student erinnerte sich an den Sprach- und Gedankenexperimentator Lichtenberg später einmal so: „Der Mann ist zu reich an Ideen. Kaum hat er angefangen, eine zu entwickeln, so drängt sich ihm schon wieder eine Menge anderer Ideen zusammen, die fast alle zu gleicher Zeit entwickelt sein wollen.“ Was er mit alledem bezweckte, hat er dem Sudelbuch anvertraut: „In Collegiis über die Experimentalphysik muß man etwas spielen; der Schläfrige wird dadurch erweckt und der wachende Vernünftige sieht Spielereien als Gelegenheiten an, die Sache unter einem neuen Gesichtspunkte zu betrachten.“

Überall Möglichkeiten, offene und verborgene, vor allem aber sinnlich vorgestellte. Auch Romane werden entworfen, eine Reise nach Italien bleibt nur ein Traum wie viele Träume. Orte werden beschrieben oder erdacht, am allerwichtigsten sind ihm Städte, in denen Verbündete innerhalb der Aufklärung, ihm vertraute Personen leben. Dazu zählte auch Berlin, denn dort saß und wirkte der Schriftsteller, Herausgeber und Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai, für Lichtenberg die Nummer eins in Berlin. Nicolai war als satirischer Kritiker von Goethes „Werther“ hervorgetreten. Und Lichtenberg hatte er aufgefordert, eine Satire gegen die Genies des Sturm und Drang zu schreiben. Über ein paar hübsche Bruchstücke kam der „Parakletor“, wie das Buch heißen sollte, jedoch nicht hinaus. Doch schon eine der vielen Vorreden dazu barg genügend Pfeffer: „Kommt mit mir, Freunde, die ihr noch wahre Weisheit kennt, in deren Geist nach vollendetem Streit der Gedanken-Elemente Licht und Philosophie, eine Welt emporgestiegen ist, folgt mir, verlaßt diese Stadt, wo die Vernunft ganz frei oder doch an einer langen Kette herumgeht, wo man mehr denkt als schreibt. - Kommt mit mir, verlaßt dieses unrettbare Volk. Freunde der wahren Weisheit, verlaßt das Land, in welchem dürres Räsonnement, der zaudernde Zweifel, Hypochondrische Gewissenhaftigkeit, die Schatten der abgeschiedenen Weisheit uns überall erschrecken, vom Buchstabier-Stall des Dorfs bis zum Hör- und Plauder-Saal der Akademie.“

Auch um das leidige Rezensierwesen ging es, immerhin hing ja Nicolai der Ruf an, mit seiner „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ eine regelrechte „Rezensierfabrik“ (Fichte) zu leiten. Auch Lichtenberg wurde von ihm mehrfach aufgefordert, sich als Rezensent an seinem Unternehmen zu beteiligen. „Ginge es nicht an“, schreibt Lichtenberg am 15. Februar 1778 an Nicolai, „daß ich Ihnen zuweilen Rezensionen von Büchern schickte, die Sie mir eben nicht grade vorgeschlagen haben? Denn ein Buch zu lesen, das ich nicht würde gelesen haben, bloß um es zu rezensieren, ist bei meinen zeitklemmen Tagen hart.“

Der rege Gedanken- und Postwechsel zwischen Göttingen und Berlin hielt an, viele Jahre. Im Sommer 1794 hatte Nicolai Lichtenberg seinen Roman Geschichte eines dicken Mannes über sandt. Euphorisch wird das Buch gelobt, aber nicht rezensiert: „Sechs Bücher dieser Art von Männern aus verschiedenem Stand wären wohl eine Allgemeine Welthistorie wert- Sie sind wahrlich einer von den Männern, die es können.“

Von der allgemeinen Welthistorie wußte Nicolai nun auch nicht gerade viel, aber ihm, seiner quecksilbrigen Konstitution wegen, und einem Mann dazu, „dem ganz Berlin gegenwärtig ist“, womit Lichtenberg auf dessen „Beschreibung der königlichen Residenzstadt Berlin“ anspielte, gehörte Lichtenbergs Zuspruch unumschränkt. Für ihn war er schließlich ein Berliner, wie er im Buche steht, der Werte wie Nüchternheit, Toleranz, Skepsis und Tüchtigkeit vereinte, also preußische Tugenden. Daß Nicolai und sein Kreis in Büchern und Briefen von Zeitgenossen oft pauschal „die Berliner“ genannt wurden, war auch Lichtenberg nicht unsympathisch. So können aus Neigungen und Urteilen über Personen Wertungen gleich über ganze Städte erwachsen.

Auch die von Gedicke und Biester herausgegebene „Berlinische Monatsschrift“ gehörte zu Lichtenbergs regelmäßiger Lektüre. Hierin hatte er Kants kleinere Schriften, darunter die berühmte Abhandlung „Über die Frage: Was ist Aufklärung?“ gelesen. In den späten Sudelbüchern taucht manchmal ein Titel aus dieser Zeitschrift auf oder ein Gedanke über die Stadt Berlin. Zu gern denkt der Satiriker Lichtenberg über Gegenstände und Orte nach, die ihm des Hinblickens ohne hinzufahren wert waren. In China oder in Indien, auch auf dem Mond siedelt er kuriose Vorstellung an. Auch Berlin und Preußen zieht er bisweilen mit hinein in den Kreis seiner Gedanken-Spiele. Von Historikern weithin übersehen, liegt dieses noch gänzlich unenträtselte Bild in der Geschichte der Erfindungen: „Wenn der Kaiser einmal seine ungarischen Schafe auf den Sand in der Mark triebe, und der König von Preußen die seinigen in Ungarn weiden ließe, was würde da nicht die Welt gewinnen!“

Was für ein Weltgewinn, Lichtenberg schwieg sich aus, nur probieren wollte er mit Worten. Ein literarischer Lustgewinn, ein Spaß durch Imagination. So vollzog sich der Zusammenklang von Aufklärung, fröhlicher Wissenschaft und Spiel zur Möglichkeits-Welt. Lichtenbergs Methode besticht bis auf den heutigen Tag: „Der Witz hascht näher oder ferner vom Ende eine Ähnlichkeit, und der Verstand prüft sie und findet sie richtig: Das ist Erfindung.“

Hinzu kommt der Versuch, einer Sache sowohl die allgemeine Werktags- als auch die seltenere Sonntagsseite abzugewinnen. Geplagt von allerlei Leiden und Vorstellungen, denkt sich der kleine, kaum einhundertvierzig Zentimeter messende Professor Lichtenberg, der zeitlebens unter einer Skoliose litt, in Rollen hinein. Von Göttingen aus entwirft er einmal einen befristeten Umsturzplan für das friderizianische Berlin. Das hätte eine gute Satire werden können. Denn König Friedrich II., der „Philosoph auf dem Thron“, der dem bedürftigen Land Brandenburg die Kartoffel auf den Tisch gebracht hatte, schien ihm, was die seltsamen Marotten einiger gar zu aufgeklärter Berliner betraf, wohl etwas zu lasch in seiner Regierungskunst. Und so schreibt Lichtenberg ins Sudelbuch: „Ich möchte nur einen einzigen Tag König von Preußen sein, ich wollte die Berliner zausen.“

Während noch weitere Charakterisierungen des Königs notiert werden, sie reichen vom „Potsdamer Groß-Auge“ (Herr Basedow läßt grüßen) bis zu „Seine sehr voltairische Majestät - Der König von Preußen“, liest Lichtenberg fleißig in den Anekdoten aus dem Leben Friedrichs, erschienen zwischen 1788 und 1792 in 19 Sammlungen und von Friedrich Nicolai in Berlin herausgegeben. Bei der Lektüre kommt ihm ein Gegen-Einfall: „Vielleicht könnte man ironisch das Leben des Königs von Preußen so behandeln, als wenn man verhindern wollte, daß keine Fabeln in die Geschichte kämen.“

Lichtenberg ahnt, wie schwierig es ist, ein Land auch nur einen Tag lang zu regieren, und er modelt seinen Ein-Tages-Königs-Einfall noch einmal leicht um, stellt sich vor: „Ich wünschte mir, bloß ein König zu sein, um mit meinen geringen Talenten L der Große zu heißen.“

Nicolai, Friedrich II., damit waren die gedanklichen und humoristischen Beziehungen zu Berlin noch lange nicht erschöpft. Ein recht produktives Verhältnis verband ihn auch zum Kupferstecher Daniel Chodowiecki, dessen Arbeiten er überaus schätzte, und zwar besonders „mit dem größten Vergnügen“ dessen kleine handliche Stiche zu vielen Büchern. Ihm gab Chodowiecki sozusagen „Unterricht als Psychologe“, und Lichtenberg nutzte diesen Mann, indem er ihm Aufträge für den „Göttinger Taschen Calender“ verschaffte, 1275 Blätter in 17 Jahren, eine fulminante Leistung und ein Dauergespräch zwischen Göttingen und Berlin, Berlin und Göttingen. Als unter den vielen Kupferstichen allerdings einmal eine Bildunterschrift auf Wunsch des Verlegers Dieterich verändert werden mußte, aus einem Professor wurde dabei ein Pedant, beklagte sich Lichtenberg übertrieben: „Herr Chodowiecki ist ein hochmütiger Bengel, und am Ende kann er doch wahrlich nichts zeichnen als Gesichterchen und Steigstiefel.“ Doch im Interesse einer weiteren guten Zusammenarbeit lenkte er auch bald wieder ein: „Fast hätte ich die Hauptsache vergessen. Wenn Chodowiecki etwas aus den Narren machen kann, so lasse ich es ihn machen. Ich bin so gern zufrieden.“

Chodowieckis Stiche boten ihm nicht „bloß Unterhaltung, sondern Gesellschaft“, und so vertraute er ganz auf dessen Stadt- und das hieß Berlin-Kenntnisse: „Er lebt überdies in einer Stadt, wo ein Künstler, wenn er durch den Wink eines Fremden auf ein nicht ganz bekanntes Feld geleitet wird, durch eigene Beobachtungen leicht alles Nötige bald nachholen kann, zumal wo der große Fonds von Beobachtungen und die glückliche Anlage, die neuern instinktmäßig zu haschen, schon da ist, wie bei diesem Mann.“

Mit Berlin verband sich auch die Erinnerung an die erste große satirische Streitschrift Lichtenbergs, die 1773 unter dem Titel „Timorus“ dort erschienen war. Anlaß dazu war ein ärgerliches Ereignis. Der Züricher Johann Kaspar Lavater, Verfasser der berühmten und heftig kritisierten „Physiognomik“, hatte den jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn öffentlich dazu aufgefordert, zum christlichen Glauben überzutreten. Das verstieß heftig gegen das Grundgesetz der Toleranz. Lichtenberg nahm Mendelssohn zwar in Schutz, versteckte sich aber mit seiner Schrift hinter einem Pseudonym. Verfolgt man diesen Faden nach Berlin weiter, dann fällt auf, daß der spitzzüngige Kopf Lichtenberg auch Ungereimtheiten und Vorurteile besaß. Zwar notierte er: „Von Lavater nach Mendelssohn, vom physiognomischen Quacksalber zum ernsten Stuhl der Weltweisheit.“ Doch änderte sich dieses Bild mit den Jahren. Der ältere Lichtenberg suchte plötzlich Unterschiede. Wenn die Rede von Mendelssohn war, unterschied er zwischen dem Juden und dem „klugen, ruhigen, stillen Denker“, aus dem „vortrefflichen Mann“ konnte also auch ein ganz anderer werden. Von allen Geistern der Aufklärung und somit auch der Toleranz verlassen, schreibt Lichtenberg 1798 ins letzte Sudelbuch L: „Mendelssohn ist viel zu viel erhoben worden. Hätte er in einem ganz jüdischen Staat gelebt, so würde er ein sehr gemeiner Verbreiter ihrer abgeschmackten Zeremonien geworden sein.“ Ein starkes Stück, in dem auch die Stadt, in der Mendelssohn wirkte, ihren Part abbekommt: „Berlin ist es und nicht Judäa oder Jerusalem, was ihm einigen Vorzug gab. Es müßte ja mit dem Teufel zugehen, wenn ein Geschöpf, das wenigstens Menschen-Gestalt hat, nicht hier und da für Wahrheit empfänglich sein sollte. Er war empfänglich dafür, und das gereicht ihm zur Ehre. Ich sehe nicht, warum wir mit vielem Aufwand eine Pflanze bauen sollen, die sich nicht für unser Klima schickt und die uns wahrlich nichts einträgt, bloß aus dem empfindsamen Prinzip, daß das Pflänzchen nicht verloren gehe.“

Tatsächlich muß in jenen Tagen der Teufel durch Lichtenbergs Stube geritten sein, denn unmittelbar hinter diesem Sudelbuch-Schmäh notiert er diese zwei Zeilen: „Unter allen Übersetzungen meiner Werke, die man übernehmen wollte, verbitte ich mir ausdrücklich die ins Hebräische.“

Da verscherbelte einer einen Teil seiner Münze. Und ausgerechnet im fernen Berlin, das Lichtenberg nie besucht hat, findet er ein betrübliches Beispiel für seinen latenten Antisemitismus. Dabei hatte er, was Berlin betrifft, einmal so unbefangen neugierig und methodisch beispielhaft begonnen, sein Interesse für Preußen und seine Metropole zu erkunden: „Sich deutliche Begriffe von Berlin verschreiben“, nennt er 1778 ein Vorhaben, bei dem er allerdings nicht gerade weit vorankommt. Denn schon zuvor hatte er kurioserweise einschränkend vermerkt: „Die deutlichen Begriffe wieder zu klaren herabstimmen.“ Schien ihm also deutlicher weniger klar als klar? Und noch früher (1773) hatte er gefragt, wie werde Menschen-Verstand vervollkommnet? Als Antwort gab er zu Buche: „Ich fordere dazu ein beständiges Bemühen, deutliche Begriffe, und zwar da, wo es angeht, nicht bloß aus Beschreibungen, sondern durch die Sinne zu erhalten, wobei man denn gleichsam immer mit der Absicht sehen muß, als wollte man eine Beschreibung davon drucken lassen, und ein glückliches Gedächtnis, das mir das Beobachtete sogleich wieder darstellt, wenn es nun bei Beurteilung einer andern Sache genützt werden soll. (Von jedem Wort also sich wenigstens einmal eine Erklärung gemacht, keines gebraucht, das man nicht versteht, und oft Sachen angesehen in der Absicht, etwas daran zu finden, was andere noch nicht gesehen haben.)“

Die besten Maximen sind dazu da, daß sich deren Erfinder nicht immer daran hält. Das alles gehörte noch zum Geplänkel auch mit Lavater, galt der heftig diskutierten Frage, ob man aus dem Gesicht tatsächlich den Charakter entschlüsseln könne. Auch Lichtenberg hatte 1778 mit seiner gegen Lavater gerichteten Schrift „Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis“ Sympathisanten und Kritiker hervorgelockt. Schon sah er die Partei der Physiognomen „das Geheim-Archiv der Seele“ erobern. In Berlin schien ein regelrechtes (oder regelwidriges) „Babylonisches Denkmal“ zu entstehen, das ihn verwirrte und in rhetorische Rage versetzte: „Das Traurigste für mich hierbei ist aber, daß die Leute, die keine deutlichen Begriffe bisher zu haben imstande waren, jetzt auf den Einfall gekommen sind, welche von Berlin zu verschreiben. Das ist allerdings unangenehm. Denn ich kann aufrichtig versichern, hätte man gleich die erste Etage des Babylonischen Turms nach Berlinischen Rissen aufgeführt, so hätte ich allenfalls mit meinem Tadel gewartet, bis der Wetterhahn gesetzt gewesen wäre.“ Das ist die Verwirrung der Aufklärung, der Versuch, von weither, hier war es die „Schweizer Garde“ um Lavater, verwirrte Ideen nach Berlin zu schicken, „um sie sich dort scheiden zu lassen“.

Die „erste Etage des Baylonischen Turms nach Berlinischen Rissen“ ist nun zugleich eine Lichtenbergische Sentenz, die sich einmal ganz aus dem Kontext seiner Zeit herauszuschälen vermag. Sie bekommt über die Zeiten hinweg etwas Elementares, als Schatten eines kritischen Zeigefingers über dieser Stadt könnte dieses Bild noch heute aufgeführt werden. Lichtenberg freilich, längst nicht mehr den Blick auf Berlin-Babylon gerichtet, leitet wieder zu seinem Lieblingsthema über. Diesmal mit einem ganz lapidaren und mit einem schönen Sätzchen: „Das Zukünftige sehen ist ebenfalls Physiognomik.“

In seinen alltäglich betriebenen „Vergleichungen zwischen sehr heterogenen Dingen“ kommt Lichtenberg noch gelegentlich auf Berlin zu sprechen. Trotz verschiedener Wirrnisse, die auch der Entfernung zwischen den Städten Göttingen und Berlin geschuldet sein mochten, eins wußte er genau, in dieser Stadt schlug das Herz der Aufklärung (mal deutlich, dann wieder klar), in dieser Stadt bestimmten Lessing und Nicolai und vor allen Moses Mendelssohn (für Lichtenberg mit den leidlich bekannten Einschränkungen) den Ton der Aufklärung. Ein bißchen neidisch auf dieses großstädtische Nest an der Spree nennt er den Ort, verglichen mit anderen deutschen Städten, ein „Asyl der Philosophen“. Sich deutliche oder klare Vorstellungen von Personen oder von Städten zu verschaffen ist allzeit eine schwierige Kunst, die auch Lichtenberg nicht uneingeschränkt beherrschte. Doch selbst dann, wenn es mißlang, sich deutliche Vorstellungen zu verschreiben, sprang für den nimmermüden Experimentator und „Meßkünstler“ (wie im 18. Jahrhundert die Physiker noch genannt wurden) immer noch ein Gewinn heraus, und sei es auch nur in Form einer „Pfennigswahrheit“: „Man sieht gerne Porträts von Leuten, die man nicht kennt und mit denen man künftig viel umgehen soll, aber bloß um sich wenigstens nach seinem System zu beruhigen; man irrt sich und erweitert sein System.“

 

Portrait

 

 

An Friedrich Nicolai

Göttingen, den 2. September 1776

Hochedelgeborener, hochzuehrender Herr,

Für Ihr vortreffliches Geschenk, den dritten Teil ihres <Nothanker>, bin ich Ihnen in mehr als einer Absicht verbunden. Die Ehre, die Sie mir dadurch antun, konnte mir kaum angenehmer sein als die Freude, ein Buch nunmehr vollendet zu sehen, auf welches unser Vaterland stolz sein kann und das jedem, der unserer Literatur wohlwünscht, eine höchst aufmunternde Erscheinung in diesen betrübten Zeiten sein muß. Über die kalte Anzeige desselben in unseren hiesigen Blättern werden Sie sich nicht wundern, da Ihnen die Einrichtung dieser kleinen Republik und die Gesinnungen von Bürgermeister und Rat hinlänglich bekannt sind. Das Buch hat den größten Beifall unter denen hier erhalten, an deren Beifall Ihnen etwas gelegen sein kann und die den Menschen auch etwas mehr kennen als par renommée wie der Rezensent.

Mit der Rezension des <Timorus> in Ihrer <Bibliothek> bin ich völlig zufrieden, ja ich würde zufrieden gewesen sein, auch wenn sie lange das aufmunternde Lob nicht enthielte, das sie enthält. Die Bemerkung am Schluß derselben hat mir vorzüglich gefallen und diente einem Verfasser, der manches, was er in dem Buche gesagt, bitter bereut hat, zu keiner geringen Beruhigung.

Meine Schrift, von welcher Ihnen Dieterich gesagt hat, ist eigentlich ein Versuch, einen Vorschlag auszuführen, den Sie mir einmal vor ein paar Jahren taten, meine Satire gegen die verderbliche Geniesucht unserer Zeit zu wenden. Sie liegt schon lange in einzelnen Blättern fertig, es muß aber manches besser verbunden und mehr zusammengedrängt werden. Zeit hätte ich wohl zuweilen dazu, auch bin ich öfters aufgelegt, allein daß ich Zeit haben sollte, wann ich aufgelegt bin, diese glückliche Konjunktion ereignet sich selten bei mir.

Auch ist dieses die Ursache, warum ich bis jetzt noch keines von den mir aufgetragenen Büchern habe rezensieren können. Ein paar will ich indessen gegen die Messe fertig machen. Ich kann nicht sagen, daß ich ein Freund vom Rezensieren bin, und habe überhaupt in meinem Leben nur zwei Rezensionen gemacht und die noch als Studiosus.

Herr Dieterich hat Ihnen durch den jungen Böhmer den Empfang des <Nothanker> gemeldet, unter diesem Schutz schob ich meine Antwort so sehr lange auf. Ich bitte wegen dieser Nachlässigkeit herzlich um Verzeihung, der ich beständig sein werde.

Dero
ganz ergebenster Diener
G. C. Lichtenberg

 

An Friedrich Nicolai

Göttingen, den 21. April 1786

... Das Denkmal, welches Sie Moses Mendelssohn in Ihrer Bibliothek errichtet haben, ist vortrefflich und hat mich bis zu Tränen gerührt. Ich lese es täglich wieder. Die Häupter sterben hin, und Gott weiß, was die Erbprinzen machen werden. Der Laudator temporis acti regt sich täglich stärker in mir, ich fürchte fast, daß es Alter ist. Ich weiß nicht.

Allein Sie, wertgeschätzter Freund, Sie müssen Mendelssohn Biograph werden. Erlauben Sie mir einmal, daß ich frei rede, man ist bei offenem Herzen nirgends besser aufgehoben als bei Ihnen. Es zeigt sich hier, wie mich dünkt, für Sie eine Gelegenheit, ein Zusammenfluß von Umständen, Ihren bereits gegründeten Ruhm mit einem Werk zu krönen, die, ich möchte fast sagen, seltener sind als das Genie, sie zweckmäßig zu nützen. Das Leben Mendelssohns müßte unter Ihren Händen ein Fundamentwerk für die Menschheit werden. Toleranz, wahre Gotteserkenntnis, wahrer Protestantismus, Überzeugung, daß man, ohne Kaiser oder König von Preußen zu sein, in dem einen bescheidenen Sprengel, ohne einen Groschen auszugeben, sehr viel Gutes tun kann, wäre es auch nur der Almosen der Verträglichkeit und der der Zeit angemessenen Anschmiegung an Lehrmeinungen, die sich noch nicht umschaffen lassen; Hoffnung, daß diese Almosen, in dem großen Schatz zur Besserung der Welt niedergelegt, dereinst sicher ihre Interessen tragen werden. Übung eigner Denkkraft der Mitglieder des Rats über Wahrheit und Irrtum, ohne Rücksicht auf Namen, zu allem diesen würde sich Gelegenheit finden, und zwar eine, die vielleicht in Jahrhunderten nicht wiederkommen möchte. Es wird sobald kein Mendelssohn wieder sterben, und geschieht es in hundert Jahren etwa einmal wieder, wird da auch ein Nicolai wieder da sein, der der Welt mit der Kenntnis und Überzeugungskraft für die Stärkeren und mit dem Kredit und Autorität für die Schwächeren, also für alle aufeinmal, mit der Macht des Stils, die Sie besitzen, sagen können wird: Das haben wir verloren, so sieht es um unser Vaterland aus, und das müssen wir tun. - Sie können das alles sonst tausendmal sagen, aber das Publikum wird so leicht nie wieder die Disposition haben, es so aufzunehmen. Man will jetzt etwas lernen und annehmen, und der Beifall fliegt Ihnen entgegen. - O hätte ich doch Mendelssohn gekannt wie Sie, hätte ich Ihre Erfahrung in der Welt und Ihre Tätigkeit! Ich schickte Ihnen wahrlich, statt dieses ganzen aus dem Herzen fließenden Zurufs, das Manuskript zum ersten Bogen. Mendelssohn wird auf diese Weise vollenden, was er angefangen hat. Sie werden sein Leben fortleben, wenn Sie sich der Arbeit unterziehen. Glauben Sie, Ihres verstorbenen Freundes Seele hat sich Ihnen nicht vergeblich mitgeteilt. Im Physischen lebt das Zerstörte noch immer in Nachkommen fort, warum nicht auch hier? O nützen Sie diesen Zeitpunkt, mit der Welt ein Wort zu reden. Sie hat ihre eigene Weise und die Kraft der Lehre ihre Zeiten; geht diese vorüber, so wird ein Augenblick im Kampf mit Aberglauben, falscher Religion und falscher Philosophie pp. versäumt, den unsere Augen nie wieder haben werden ...

Quelle:
in: Lichtenberg, Aphorismen, Essays, Briefe
Dietrich’ Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1965, 2.Aufl.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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