Eine Annotation von Gisela Reller


Berberova, Nina:

Das Buch vom dreifachen Glück

Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.

Luchterhand Literaturverlag, München 1997, 186. S.

Nina Berberovas Roman ist ein äußerst feinfühlig geschriebenes Buch über Gefühlstiefe und Gefühlsabgründe in vielem autobiographisch: die tiefe Kinderfreundschaft, die unglückliche Ehe mit einem älteren, kränklichen Mann, mit dem russischen Dichter und Literaturkritiker Wladislaw Chodassewitsch nämlich, ihre Emigration nach Paris, ihre Gier nach Leben und Glück - dem ganz besonderen, dem einmaligen...

Ihr Buch vom dreifachen Glück gliedert sich in drei Teile, was sicherlich auch dem Umstand geschuldet ist, daß es zuerst in drei Fortsetzungen in der russischsprachigen Exilzeitschrift „Sovremennye Annaly“ erschien.

Unter eigenartig-bewegenden Umständen lernt die Buchheldin Vera, da ist sie zehn Jahre alt, den neunjährigen Sam kennen. Aus dieser Begegnung entsteht eine sechs Jahre währende außerordentliche, glückliche Kinderfreundschaft; dann emigriert Sam Adler mit seinen Eltern nach Amerika. Sie schreiben sich, sehen sich aber fünf Jahre lang nicht wieder. Um so mehr freut sie sich auf ein Wiedersehen in Paris, doch Sam, der Musiker geworden ist, begeht am Tage seiner Ankunft Selbstmord, weil er es für ihn unerträglich ist, in seinem Metier nicht der Erste zu sein. Seinen Abschiedsbrief richtet er an die Freundin seiner Kindertage, sie eilt verstört an sein Totenbett. Zu Hause liegt indes ihr zwölf Jahre älterer, todkranker Mann Alexander Albertowitsch. Sie hat ihn, Liebe mit Mitleid verwechselnd, geheiratet und war mit ihm zusammen nach der großen russischen Revolution nach Paris emigriert. Ein Monat nach ihrer Ankunft brach bei ihm die verheerende Tuberkulosekrankheit aus. Vera, zwanzig Jahre alt, pflegt ihn geduldig drei Jahre lang bis zu seinem Tode - ihm jedoch schon vorher oft den Tod wünschend, ohne sich dafür zu schämen. Dann begegnet Vera, die sich über die aufopferungsvollen Pflegejahre hinweg ihre „verbrecherische, eiserne Liebe zum Leben“ bewahrt hat, dem russischen Emigranten Karelow. Beide stimmen in ihrer Gier nach Glück überein, kommen sich so nahe, daß Vera bei Kare low „das heftige Gefühl hat, elektrisch geladen zu sein“. Und Karelow? „Ich will weder Ruhe noch Freiheit, ich will Glück.“

Der Originaltitel des Romans heißt Das Buch vom Glück, was dem Inhalt entspricht. Warum der Verlag daraus ein dreifaches Glück gemacht hat, bleibt sein Geheimnis...

Obwohl sich die Literaturkritiker darin einig sind, daß Nina Berberovas mit ihrer erzählerischen Meisterschaft an die großen russischen Realisten des neunzehnten Jahrhunderts anknüpft, sucht man ihren Namen in DDR-Lexika und Literaturgeschichten der ehemaligen Sowjetunion vergeblich. Was Wunder: 1902 in St. Petersburg geboren, emigrierte sie 1922 gemeinsam mit Chodassewitsch über Berlin, Prag, Venedig, Rom 1925 nach Paris. In Paris lebte die Tochter aus wohlhabendem russisch-armenischen Hause fünfundzwanzig Jahre lang in Armut. Sie übersetzte hier Dostojewski ins Französische, arbeitete bei verschiedenen russischen Exilzeitungen, schuf eine auch heute noch (zu Recht) gerühmte Tschaikowsky-Biographie (deutsch bei Claassen, Düsseldorf), ein Buch über Alexandr Blok, schrieb Gedichte, Novellen, „lange Erzählungen“, Romane, 1936 Das Buch vom Glück, das als ihr bedeutendstes Werk gilt. 1950, nachdem auch ihre zweite Ehe gescheitert war, wanderte sie nach Amerika aus. Als sie in New York ankam, besaß sie fünfzig Dollar und sprach nicht englisch. Sieben Jahre lang schlug sie sich in sieben verschiedenen Berufen durchs Leben. Durch ihre dritte Heirat erhielt sie eine ständige Aufenthaltsgenehmigung. Ob diese Ehe glücklich war, erfährt der Leser aus ihrer Autobiographie nicht. Beruflich jedenfalls hatte sie Glück, sie wurde in Yale und Princeton Professorin für russische Literatur des 20. Jahrhunderts. 1960 bis 1966 schrieb sie in den USA ihre (600 Seiten lange) Autobiographie Ich komme aus St. Petersburg (deutsch bei Claassen) - ein Leben voller Brüche und Aufbrüche, voller Unvorhersehbarkeiten, Abenteuer, Exotik und: voller berühmter Namen wie Zwetajewa, Pasternak, Bunin, Nabokov, Gorki und Kerenski, um nur die berühmtesten zu nennen. 1993 starb Nina Berberova in Philadelphia, nachdem sie, da schon über achtzig Jahre alt, doch noch einmal ihre russische Heimat besucht hat.

Die Berberova, in den achtziger Jahren in Frankreich wiederentdeckt und in zwanzig Sprachen übersetzt, gehört inzwischen zu meinen Lieblingsschriftstellern. Zehn ihrer Prosaarbeiten sind auch in deutscher Sprache erschienen, u.a. Die Gebieterin, Der Lakai und die Hure und Die Begleiterin. Fragte mich jemand, mit wem aus der Geschichte ich einen Tag verbringen möchte, ich würde ohne zu zögern antworten: mit Nina Berberova.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 2/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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