Eine Rezension von Birgit Pietsch


Herrschaft und Architektur

Hans Wilderotter: Alltag der Macht

Berlin Wilhelmstraße.

jovis Verlagsbüro, Berlin 1998, 349 S.

Die Downing Street in London, längst ist der Name der Straße zu einem Synonym für die britische Regierung geworden. Doch hier sitzt nicht nur das Kabinett, rund um Downing Street und Whitehall liegt das Zentrum der politischen Macht in der Hauptstadt des Vereinigten Königreiches. In Berlin wird es eine derartige Konzentration an einem Ort nicht geben: Auswärtiges Amt am Werderschen Markt und Innenministerium am Spreebogen, Präsidialamt am Schloß Bellevue und Bundesrat in der Leipziger Straße liegen Kilometer voneinander entfernt. Die Vorstellung, daß es auch in Berlin einmal anders war, fällt schwer. Von der Wilhelmstraße, wo sich einst Ministerien und Ämter aneinanderreihten, sind nach dem letzten Krieg nur Bruchstücke geblieben, und die Neubebauung erinnert in nichts mehr an den einstigen Charakter der Straße, in der zuerst vor mehr als zweihundertfünfzig Jahren auf königliche Weisung die Palais des Adels entstanden. Später nahmen darin die Behörden Preußens ihren Sitz. Nach der Schaffung des Einheitsstaates folgten die Ministerien des Kaiserreiches. Nach dem Sturz der Monarchie kamen die der Republik und gleichsam als Finale die des Dritten Reiches.

Da nun Berlin wieder Regierungs- und Parlamentssitz wird, scheint auch das Interesse an der Historie der Wilhelmstraße neu erwacht. Der hier vorliegenden Veröffentlichung der Historischen Kommission gingen bereits mehrere Publikationen zur preußisch-deutschen Straße der Macht voran. So gaben im vergangenen Jahr Helmut Engel und Wolfgang Ribbe die Geschichtsmeile Wilhelmstraße im Akademieverlag heraus. Ein Tagungsband, der u. a. vergleichende Sichten auf die Zentren der Macht in Wien, London, Moskau und Paris bot, zudem Beiträge zur baulichen Gestaltung der Straße und zur städtebaulichen Perspektive. Einiges Nachdenkenswerte ist da versammelt, als Geschichts- und Nachschlagewerk kann er jedoch kaum genutzt werden. Ganz anders Berlin Wilhelmstraße. Eine Topographie preußisch-deutscher Macht von Laurenz Demps, bereits 1994 erschienen. Ein Buch von großem Format, im doppelten Sinne, das ob seiner Qualität anderen nicht gerade Mut machen dürfte, noch ein weiteres Werk über diesen Ort zu veröffentlichen. Hans Wilderotter hatte diesen Mut.

Die Klammer für die vielen verschiedenartigen Themen des Buches ist dabei die Frage: „...mit welchen symbolträchtigen Strategien Politiker und Beamte das Äußere und das Innere der Häuser und Räume, in denen sie ihren Geschäften nachgingen, zur Darstellung der Macht der Behörde, die sie leiteten oder der sie an leitender Stelle angehörten, nutzten oder genutzt wissen wollten und welche Rückschlüsse auf das Selbstverständnis dieser Politiker und Beamten daraus zu ziehen sind“.

Dabei geht es nicht nur um die große Politik, die von diesem Ort ausging, an dem Otto von Bismarck, Otto Braun, Friedrich Ebert, Paul von Hindenburg, Josef Goebbels und Adolf Hitler wirkten. Dem Autor geht es um den Zusammenhang zwischen Politik und Architektur, den er auch in scheinbar banalen Dingen findet: im Fassadenschmuck und in Ornamenten oder der Einrichtung und Dekoration von Arbeitszimmern und Dienstwohnungen. In einem gesonderten Komplex unter dem Titel „Die regierende Bürokratie“ stellt Wilderotter die Beamtenpolitik vom Kaiserreich bis zu den Nationalsozialisten dar. Hier widmet er sich auch dem Einfluß hoher Beamter, etwa der Chefs der Reichskanzlei, auf die Politik. Ein Einfluß, der von keiner Verfassung gedeckt war. So gelang es etwa Bismarcks Kanzleichef Christoph von Tiedemann, die Einführung von Schutzzöllen zu forcieren. Über Hermann Pünder, Staatssekretär von 1926 bis 1932 unter ständig wechselnden Kabinetten, schreibt der Autor, daß man den Eindruck nicht loswerde, „als regiere hier ein Staatssekretär über den Kanzlern, Ministern und Parteien“. Und auch zu Hans Heinrich Lammers, unter Hitler Chef der Reichskanzlei, bemerkt Wilderotter, daß in vielen Fällen sein Vortrag die eigentliche Grundlage für Hitlers Entscheidung war, es ihm verschiedentlich auch gelang, Hitler zur Änderung einmal getroffener Entscheidungen zu veranlassen.

Laurenz Demps hatte im Anhang seines Bandes Biographien der Grundstücke der Wilhelmstraße veröffentlicht, in denen jeder Besitzwechsel verzeichnet ist. Wilderotter geht auf nahezu einhundert Seiten auf die architektonische und die Nutzungsgeschichte jedes einzelnen Amtsgebäudes ein. Insgesamt gelang Wilderotter so geradezu ein Komplementärband zum Buch von Laurenz Demps, und das trotz oder gerade wegen der recht bunten Auswahl der Themen. Schade nur, daß dem Buch ein Register fehlt, das auch ein schnelles Nachschlagen ermöglicht hätte.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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