Eine Rezension von Horst Wagner


Ungeschminkt und unverzerrt

Siegfried Wenzel: Plan und Wirklichkeit

Zur DDR-Ökonomie. Dokumentation und Erinnerungen.

Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1998, 195 S.

„Das Beharren auf einem Widerspruch gegen die Linie und die Beschlüsse der SED durch einen Generaldirektor eines Kombinates oder einen Minister bis zur letzten Konsequenz war genau so schwierig und existenzbedrohend wie der Widerspruch eines Priesters, eines Kaplans oder eines Bischofs der katholischen Kirche gegen die Auffassung des Papstes. Und leider war er auch genauso selten.“ (S. 149) So eine Aussage des Autors, mit der er sicher auch verständlich machen wollte, warum er den von ihm jetzt kritisierten „Subjektivismus und Volontarismus in der Wirtschaftspolitik der SED“ solange in leitender Position, u.a. als Erster Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, mitgetragen bzw. ertragen hat. Man mag zu einzelnen Aussagen des Buches stehen, wie man will - was Wenzel hier vorgelegt hat, ist eine sehr solide, ebenso detailreiche wie differenzierte Studie über die Entwicklungsetappen, die Stärken und Schwächen sowie den schließlichen Niedergang der Volkswirtschaft der DDR. Interessant und nachdenkenswert sind seine Überlegungen zu den ökonomischen und politischen Ursachen für das Scheitern dieses sozialistischen Versuchs; darüber, was dabei systembedingt, was historischen Umständen und was subjektiven Fehlleistungen geschuldet war.

Eine Ausgangsthese Wenzels ist, daß „die Bevölkerung der DDR unter widrigen Umständen ... beim Versuch der Schaffung grundlegend anderer Eigentumsverhältnisse große Leistungen vollbracht“ hat. (S.1) Diesen widrigen Umständen schenkt er im Eingangskapitel über die Ausgangsbedingungen der ökonomischen Entwicklung der DDR besondere Aufmerksamkeit. Er rechnet dazu Kriegszerstörungen und Reparationen („Die DDR trug 97-98 Prozent der Reparationsleistungen Gesamtdeutschlands“), die Teilungsdisproportionen sowie die Verluste durch Abwanderung von „Humankapital“ vor 1961. Im zweiten Hauptteil beschäftigt er sich mit den einzelnen Etappen der DDR-Wirtschaftsentwicklung: von der „Stunde Null“ und der antifaschistisch-demokratischen Ordnung über Ulbrichts Plan zum „umfassenden Aufbau des Sozialismus“ bis zum Scheitern von Honeckers hoffnungsvoll begonnener, dann aber zunehmend durch Voluntarismus und Erstarrung gekennzeichneter Politik. Eine gründliche Beleuchtung erfahren dabei die von Ulbricht zunächst unterstützten, dann aber abgebremsten Versuche einer auf höhere Effektivität zielenden Wirtschaftsreform. Es werden die Umstände um den Freitod des führenden Wirtschaftspolitikers Erich Apel ebenso behandelt wie Sinn und Unsinn der Losung „Überholen ohne einzuholen“. Wir erfahren interessante Einzelheiten über die drastischen Folgen der 1972 einsetzenden Erhöhung der Rohstoffpreise und über das bedenkenlose Hineintappen in die kapitalistische Schuldenfalle - eine der negativen Auswirkungen der von Honecker propagierten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Im dritten, einigen Hauptfragen der ökonomischen Entwicklung gewidmeten Kapitel werden zunächst Vor- und Nachteile der engen ökonomischen Zusammenarbeit DDR-UdSSR untersucht und dann am Beispiel der Mikroelektronik der erschreckende Effektivitätsrückstand der DDR beleuchtet. So sei der 1985 in die Massenproduktion übergeführte 256 kbit-Speicher acht bis zehn Jahre hinter der Weltentwicklung zurück gewesen. Die Selbstkosten für einen solchen Chip hätten 534 Mark der DDR betragen, der Weltmarktpreis zur selben Zeit aber nur 6 DM (S.110). Besonderes Interesse verdient sicher die sehr sachliche Darstellung der geheimnisumwitterten, aber für die Lebensfähigkeit der DDR höchst bedeutsamen Tätigkeit von Schalcks „Kommerzieller Koordinierung“. Aufschlußreich auch die Ausführungen über die tatsächliche Höhe der Westverschuldung. Sie sei meist höher ausgewiesen worden, als sie in Wirklichkeit war, was sich aus den geheimen Zuflüssen von Koko-Seite erklärt. Insgesamt sei die Westverschuldung in Höhe von 29,6 Mrd. Valutamark zwar „eine nicht tragbare Hypothek“ gewesen. Es gäbe jedoch „Staaten mit einem wesentlich größeren absoluten als auch Pro-Kopf-Volumen der Außenhandelsverschuldung, bei denen weder die Frage der Verantwortung der Regierung noch der gesellschaftlichen Verhältnisse gestellt wird“. Im November 1989 habe eine Pleite der DDR „nicht unmittelbar bevorgestanden“. Eine „sanfte Vereinigung zweier völlig unterschiedlicher, getrennt gewachsener Volkswirtschaften“ sei damals noch möglich gewesen. (S.126)

Aus langjähriger Erfahrung in der DDR-Plankommission schöpfend, gibt Wenzel im vierten Kapitel einen detailreichen Einblick in Prinzipien, Struktur und Praxis des Planungssystems der DDR. Er untersucht das immer weitere Auseinanderklaffen von Wunsch und Wirklichkeit, die Vor- und Nachteile der Kombinatsbildung ebenso wie die geschönten Kennziffern und den selbstherrlichen Arbeitsstil des ZK-Wirtschaftssekretärs Mittag. Abzulehnen sei nicht Planung schlechthin. Vielmehr gewinne die „Verbindung von Plan und Markt angesichts der gerade gegenwärtig immer deutlicher werdenden Einsichten, daß die Selbstregulierungskräfte des Marktes nicht imstande sind, die herangereiften strukturellen Probleme der Marktwirtschaften zu lösen, immer mehr an Bedeutung“ (S. 133). Eine Hauptursache für das Scheitern des DDR-Planungssystems wie der realsozialistischen Ökonomie überhaupt sei neben dem schon erwähnten Volontarismus und dem Mangel an Demokratie vor allem die Tatsache gewesen, daß das „als Volkseigentum bezeichnete Staatseigentum an den Produktionsmitteln ... für den einzelnen wie für die Kollektive weitgehend anonym“ blieb. Dadurch sei „kein subjektives Eigentümerbewußtsein und damit auch nur ungenügend Eigentümerverantwortung“ entstanden. „Die Grundleistungsantriebe der Marktwirtschaften kamen nicht zur Wirkung. Ihr Ersatz durch Ideologie und plakative Losungen beraubte den Sozialismus dieser Epoche um eine Haupttriebkraft für Leistung, Effektivität und Motivation...“ (S.130)

In diesem Zusammenhang wären sicher - auch im Interesse alternativer Gesellschaftsmodelle - weitere Überlegungen interessant gewesen, wie denn die Triebkraft Konkurrenz genutzt werden könnte, ohne ihre existenzvernichtenden Wirkungen in Kauf zu nehmen. Oder wie Wenzel selbst die Frage stellt: „Wieviel Ungerechtigkeit soll man sich und kann man sich gegenüber wieviel Effektivität leisten?“ (S.179) Dieses, wie er es nennt, „Kernproblem einer demokratischen Gesellschaft“ bedarf sicher weiterer Ausarbeitung. Sehr nachdenkenswert Wenzels Darstellung, ob es in der DDR ein eigenes, in sich geschlossenes soziales, ökonomisches und bewußtseinsmäßiges Wertesystem gab, welche Probleme sich daraus gegenwärtig für das Zusammenwachsen in Deutschland ergeben, aber auch wie diese DDR Werte-Erfahrungen positiv im Vereinigungsprozeß zur Geltung kommen könnten. Alles in allem: Wenzels Buch ist eine ungeschminkte und unverzerrte Darstellung wichtiger Seiten der DDR-Geschichte, die sich vorteilhaft unterscheidet von manchem oberflächlichen, einseitigen Blick allein auf die „Mißwirtschaft“. Ein Buch, das Fragen kenntnisreich beantwortet und zugleich neue aufwirft.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite