Eine Rezension von Jürgen Birg


Bis vor kurzem „Streng geheim“

Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hrsg.): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950.

Band 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik.

Eingeleitet und bearbeitet von Ralf Possekel.

Akademie Verlag, Berlin 1998, 424 S.

Die im zweiten Band publizierten Dokumente beziehen sich auf die politische Geschichte der sowjetischen Speziallager in (Ost-)Deutschland, einschließlich ihrer Vorgeschichte und Auflösung. Sie stammen aus russischen Archiven und werden in deutscher Übersetzung ediert. Entnommen sind sie dem Bestand Innenministerium (NKVD/MVD) und dem Bestand Speziallager im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) sowie dem Bestand 89 im Zentrum für die Archivierung zeitgenössischer Dokumente (CChSD). Ausgewertet wurden auch die Sondermappen zu Stalin und Molotov, die Handakte Serov (Serov trug am längsten die Verantwortung für die sowjetischen Lager in Deutschland), GULAG-Akten, Dokumente aus dem Bereich der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte sowie Akten aus dem Bereich der Abteilung Speziallager. Die Absicht, Dokumente des umfangreichen SMAD-Bestandes ins GARF einzubeziehen, konnten die Herausgeber nicht verwirklichen, während die Durchsicht anderer Archive (Parteiarchiv der KPdSU, Außenministerium) sich als unergiebig erwies bzw. keine neuen Materialien zu Tage förderte. Die Dokumente zu den Speziallagern waren in der Sowjetunion als „Streng geheim“ klassifiziert und bis 1990 nicht zugänglich. Geheim blieben bis heute die Akten geheimdienstlicher Ermittlungen unter den Speziallagerhäftlingen und zu den sowjetischen Leitungskadern.

Die Dokumente sind chronologisch angeordnet, die Fußnoten stellen inhaltliche Bezüge her. Ein Vorzug ist ohne Zweifel, daß sie alle (eine Ausnahme bestätigt die Regel) ungekürzt wiedergegeben werden. Die Übersetzer standen vor der schwierigen Aufgabe, die sprachlichen Eigentümlichkeiten des russischen Originals adäquat zu übertragen. Jedem Dokument ist ein Regest mit Angaben zu Gattung, Absender, Empfänger und Inhalt vorangestellt. Als vorteilhaft hat sich erwiesen, daß Tag und Ort der Ausstellung, Aktenzeichen, Vertraulichkeitsstufe und Fundort angegeben wurden. Für den Nutzer nicht unwichtig, wenn auch nicht überprüfbar, ist die quellenkritische Einordnung des jeweiligen Dokuments.

Abgedruckt sind in chronologischer Abfolge 123 Dokumente aus 10 Jahren. Sie beginnen mit einer Mitteilung von Berija an Stalin über die Registrierung der deutschen Bevölkerung in den besetzten Gebieten Osteuropas vom 24. November 1944 und enden mit dem Beschluß des ZK-Präsidiums der KPdSU zur Verlängerung der Fristen für die Überprüfung von Urteilen am 28. Dezember 1954. Die abgedruckten Unterlagen erlauben, sich ein Bild über sowjetische Entscheidungen zur Thematik zu machen. Offen bleiben nach wie vor Intentionen und Handlungsmotive der sowjetischen Instanzen. Stalin selbst griff nur selten direkt in die sowjetische Lagerpolitik ein, dann aber markierte dies in der Regel einen entscheidenden Eckpunkt (vgl. Dokument 1-4, 18, 19, 62, 85 und 103). Abgedruckt ist auch der erste sowjetische Internierungsbefehl (Befehl Nr. 0016) vom Januar 1945.

Vor Abdruck der Dokumente wird der Leser in einem Vorwort von Lutz Niethammer und in einer Einleitung von Ralf Possekel auf das Kommende eingestimmt, abgeschlossen wird der Band durch einen nützlichen Anhang. Niethammer benennt als bestimmend für die Dokumentenauswahl: „1. Alle Entscheidungen der sowjetischen Führung, die die Einrichtung bzw. Auflösung der Internierungslager in der SBZ oder die Einweisung, Deportation, Tötung oder Entlassung von Häftlingsgruppen berührten, sollten dokumentiert werden. 2. Die Dokumentation aller in dieser Hinsicht relevanten Entscheidungen sollte durch solche Dokumente aus den Beständen des GARF erweitert werden, die deutschen und russischen Lesern mögliche Motive und Hintergründe aufzeigen und Entscheidungswege deutlich machen.“ (S. 9) Die Herausgeber meinen, alle für die Geschichte der Speziallager relevanten Entscheidungen der Sowjetführung (vom NKVD/MVD-Befehl bis hin zum Politbüro- oder Regierungsbeschluß) dokumentiert zu haben.

Possekel untersucht in seinem fast hundertseitigen einleitenden Beitrag erstmals umfassend, differenziert und quellengestützt die Strukturen, Ebenen und Entscheidungsprozesse der sowjetischen Lagerpolitik in Deutschland. Als im Oktober 1944 die Rote Armee erstmals deutschen Boden betrat, gab es durch die Moskauer Führung keine Direktiven. Befehle zur Regelung des Besatzungsregimes, die umfangreiche Zwangsmaßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung vorsahen, kamen erst im Januar 1945. Seit April 1945 galt die Internierung allein Spionen, Diversanten, Terroristen, aktiven Mitgliedern der NSDAP, Führern faschistischer Jugendorganisationen, Mitarbeitern von Gestapo und Sicherheitsdienst sowie höheren Beamten. Seit 1946 wurden in den Speziallagern auch von sowjetischen Militärtribunalen (SMT) Verurteilte inhaftiert. Über die Notwendigkeit von Internierungen gab es zwischen den Alliierten keine Differenzen, wohl aber über Details ihrer konkreten Ausführung. Da es keine einheitliche Regelung gab, unterschied sich der Umgang mit deutschen Zivilpersonen in den Besatzungszonen deutlich.

Possekel unterscheidet mehrere Phasen der sowjetischen Lagerpolitik in Deutschland, die durch die Linie der Deutschlandpolitik bestimmt waren. Von Januar bis April 1945 ging es um die „Eintreibung von Kriegsbeute“, insgesamt wurden in dieser Phase ca. 140 000 Deutsche als „feindliche Elemente“ festgenommen und etwa 100 000 als Arbeitskräfte zwangsrekrutiert. Die nächste Phase basierte auf dem NKVD-Befehl Nr. 00315 und reichte von Mai 1945 bis Oktober 1946. Internierte wurden vor „Ort“ in Lagern untergebracht und nicht mehr in die Sowjetunion deportiert, das sowjetische Lagersystem und ein Staatssicherheitsapparat in der SBZ wurden aufgebaut. In der folgenden Phase von November 1946 bis August 1948 durfte eine Internierung nicht mehr durch Sicherheitsorgane erfolgen, sondern nur nach Einverständnis durch die Militärtribunale. Sie ist durch Entscheidungsblockaden und Kompetenzüberschneidungen in den sowjetischen Behörden gekennzeichnet, die zu einer hohen Zahl von Todesfällen durch Hungerkatastrophen in den Lagern führten. Die Zeit von August 1948 bis April 1950 war politisch durch die Orientierung auf die Bildung und Stärkung eines von der SED geführten ostdeutschen Staates bestimmt. Die Speziallager in Deutschland fungierten als Filialen des GULAG, im Frühjahr 1950 wurden die letzten drei Speziallager in Buchenwald, Sachsenhausen und Bautzen aufgelöst, in der UdSSR blieben deutsche Zivilisten noch bis 1956 inhaftiert. Die DDR hatte für einige tausend Häftlinge Ermittlungsvorgänge abzuschließen und den Strafvollzug zu organisieren. Die hohe Zahl von Toten in den Speziallagern wertet Possekel weder als Folge einer planmäßigen, gar dem Holocaust vergleichbaren Vernichtung, noch einer rücksichtslosen physischen Ausbeutung. Auch die mit fatalen Folgen verbundene Absenkung der Lebensmittelrationen im Herbst 1946 hatte nicht die Vernichtung zum Ziel.

Im Anhang finden sich neben Abkürzungs- und Literaturverzeichnis ein Personenregister und biographische Angaben zu sowjetischen Partei-, Armee- und Staatssicherheitsfunktionären, leider fehlt ein Sachwortverzeichnis, nützlich wäre auch ein geographisches Register gewesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

zurück zur vorherigen Seite