Eine Rezension von Karla Kliche


Differenz und Gemeinsamkeit

Andreas Erb (Hrsg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre

Unter Mitarbeit von Hannes Krauss und Jochen Vogt. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1998, 236 S.

Täusche ich mich, oder ist es tatsächlich so, daß Gegenwartsliteratur (als Ganzes) selten so sehr von Interesse war wie derzeit? 1998 sind mindestens zwei Publikationen dazu erschienen, die sie im Titel tragen. Die eine, im wesentlichen eine Dokumentation der Wortmeldung dazu von Praktikern des Literatursystems - Literaturkritikern, Redakteuren und Lektoren -, transportierte vorrangig deren Erwartungen an die aktuelle Literatur, über die sie untereinander stritten (Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, herausgegeben von Andrea Köhler und Rainer Moritz - vgl. Berliner Lesezeichen, 11/12/1998). Den Kern der hier in Rede stehenden Veröffentlichung dazu bilden ausgewählte Beiträge einer literaturwissenschaftlichen Konferenz von 1995. Das Vorwort artikuliert eindeutig das widerständige Motiv gegen ritualisierten Schlagabtausch, der Gefahr läuft, die Literatur selbst aus dem Auge zu verlieren: „Trotz“. Und: ,Baustelle‘ reduziert den Anspruch an Literatur, nicht Endgültiges wird erwartet, sondern der Dynamik des Prozesses gilt das Interesse. Neben (vorrangig) Literaturwissenschaftlern äußern sich auch hier Praktiker: Literaturdidaktiker. Es wäre sicher reizvoll, den Vergleich fortzusetzen...

In den Blick genommen werden eingangs die gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen für das Wirken von Literatur. Hierzu hat der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal sich bei der Frage nach der kulturellen Dimension der „Wende“ von 1989/90 Anregung geholt bei den Soziologen. Mit ihnen kommt er zu Befunden von Modernisierung(sschüben) in der BRD- wie DDR-Gesellschaft auch in ihrer jeweiligen kulturell-literarischen Sphäre, was vornehmlich seit den endsiebziger Jahren (eingedenk auch von markierten Unterschieden) in beiden Gesellschaften zu Ausdifferenzierungen führte, zu sozial-kulturellen „Milieus“, zwischen denen die Kommunikation zunehmend geringer wurde. Die Folgen dieses Prozesses für die (achtziger und) neunziger Jahre faßt er nicht (mehr) mit dem Bild des „literarischen Klimas“, was traditionell auch (allgemeine) „Öffentlichkeit“ genannt werden könnte, sondern einer „Klimaanlage“ mit fünf verschiedenen Gängen, die ihre je eigenen ästhetischen Rezeptions- und Produktionsspezifika - Publikationsorgane eingeschlossen, wie an anderer Stelle belegt - haben. Bogdals Ausgangsfrage war die, ob 1989/90 für die Kultur eine „epochale“ Wende war. Er belegt statt „Wende“ aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers einen Prozeß, der in beiden Gesellschaften davor begonnen hat und sich in den neunzigern fortsetzt. Vielleicht beantwortet das die andauernde Erwartung eines „Wenderomans“? Und auch die Forderung nach kultureller Orientierung von (Gegenwarts-)Literatur im vereinten Deutschland? Dazu müßten die Grenzen der ausdifferenzierten Diskurse überschritten werden... Bogdal schließt lakonisch: „Ansonsten kommt weiterhin..., was seit zwanzig Jahren da ist, d. h. für jeden das, was ihm gefällt. Warum eigentlich nicht?“

Dies scheint mir kein fatalistischer oder Beliebigkeit akzeptierender Schluß, sondern eher eine realitätsbezogene Haltung, die vorschneller Rezepte enträt und aufmerksam darauf macht, daß mit den aufgezeigten Diskursgrenzen - auch literaturkritisch - bewußt umzugehen ist.

Ganz offensichtlich war es Konzept der (des) Herausgeber(s), als deutsche Gegenwartsliteratur die in Ost und West entstandene im Band zu präsentieren - durchaus noch nicht Selbstverständlichkeit. Zu belegen wäre das nicht zuletzt mit dem zweiten Aufsatz, dem von Hans Peter Herrmann mit dem provokanten Titel „Der Platz auf der Seite des Siegers“, in dem der Freiburger „Prof. pens“ die „Auseinandersetzung westdeutscher Literaturwissenschaft mit ostdeutscher Literatur“ untersucht. Herrmann plädiert dafür, zum einen die Differenz zwischen den „in Deutschland Ost und Deutschland West“ entstandenen Literaturen wahrzunehmen, aber darüber hinaus „diese Differenz zugleich auf mögliche Gemeinsamkeiten hin zu betrachten“. Am Beispiel von zwei exemplarisch analysierten Darstellungen (1995 bzw. 1996 erschienen) zu ostdeutscher Literatur nach der „Wende“ konstatiert er im einen Fall (Wehdeking): fehlende Neugier, wie Bürger der DDR Staat und Gesellschaft erlebt haben; „allegorische Lektüre: als mehr oder weniger angemessene Darstellung eines bereits feststehenden, allgemein anerkannten Wissens über die Realität der DDR“, mit der „unmittelbar politischen“ Konsequenz: „Kritik am DDR-System wird als legitim referiert, Kritik an der westlichen Gesellschaft heruntergestuft“; die „poetologischen Konsequenzen“ solchen Lesens - ästhetische Werturteile, verbal gefordert, werden durch politische Meinungen unterwandert; Unterstellung, nicht auf der Höhe postmodernen Diskurses zu sein. Im anderen Fall (Emmerich): „böse“ Wertungen, nämlich als „gänzlich unwestlich“; die Unfähigkeit, sich im „eigenen Weltverständnis verunsichern zu lassen“; Rubrifizierung der anderen Wahrnehmung des gemeinsam erlebten Prozesses als „Ostalgie“ mit der Konsequenz, daß auch hier Kapitalismuskritik heruntergespielt wird; auch hier wird belegt, wie die ästhetische Dimension von Texten auf die politische reduziert wird. - Fazit des Verfassers: „das zentrale Thema“ der die Wende reflektierenden ostdeutschen Literatur, das des „Identitäts- und Weltzerfalls, wird in seiner a l l g e m e i n e n Bedeutung nicht erkannt“, nicht in den „Mittelpunkt des eigenen Interesses gerückt“. (Kritisch befragt er dann noch Emmerichs Handhabung seiner zentralen Kategorien „Autonomie des Ästhetischen“ und „Modernisierung“).

Wie zu erwarten, werden dann im Band auch zwei ostdeutsche Autoren „ästhetisch“ gelesen: Volker Braun unter dem Aspekt „Vollendung im Fragment“ aus Anlaß des 1993 erschienenen 10. Bandes seiner „Texte in zeitlicher Folge“ (nicht Werke!), Brauns Nachwendeproduktion mit Blick aufs Gesamt„werk“ wertend (Manfred Jäger); und Peter Wawerzineks Thematisierung von „Metropole“ und „Subjektwerdung“ (Andreas Erb).

Eine solche Lektüre erfährt übrigens auch ein Text von Herta Müller, die als rumäniendeutsche Autorin in der westdeutschen Öffentlichkeit einen den DDR-/ostdeutschen Autoren durchaus vergleichbaren instrumentalisierenden Umgang erfahren hat. -
Aufschlußreich, wie Perspektiven auf ein Werk dieses verkürzen oder aufzuschließen vermögen. Dies ist im Band zu beobachten an zwei Lektüren des Romans Flughunde von Marcel Beyer. Jörg Magenau liest ihn im Kontext von elf weiteren Arbeiten jüngerer Autoren als Körper-Text („neue Innerlichkeit“ wortwörtlich genommen). In einem umfangreichen Aufsatz dagegen stellt Bernd Künzig dar, wie Beyer, auch medientheoretische Fragestellungen verarbeitend, die Problematik diskutiert, vor der die dritte Generation steht, die sich schreibend mit dem Nationalsozialismus aueinandersetzt. - Im übrigen zeigt dieser Vergleich auch, wie schwierig die Verständigung über die Diskursgrenzen hinweg ist (einerseits der körper- andererseits der medienzentrierte Diskurs).

Es kann hier nicht auf die 13 Beiträge des Bandes im einzelnen eingegangen werden, was keine Wertung bedeutet (auch wenn ich gern kritisch anmerken würde, daß ein Beitrag über Grass’ Ein weites Feld „im Literaturbetrieb“ zu mitunter problematischen Einschätzungen gelangen kann, wenn der Verfasser selbst diesen Roman, wie an verschiedenen Stellen ersichtlich, nur recht oberflächlich zur Kenntnis genommen hat).

Im Sinne der von Herrmann angemahnten westdeutschen selbstkritischen Haltung aber sei doch noch auf die abschließenden Aufsätze zur Schulpraxis aufmerksam gemacht. Mit Bezug auf die Kanon-Diskussionen in der „FAZ“ und in „Die Zeit“ seit 1995 begründet Clemens Kammler die heutige Unangemessenheit solcher Forderungen nach „verbindlichen Inhalten“. Einen Unterricht, in dem immer n u r „Schulklassiker“ behandelt werden, wertet er als „antiquiert“. Vor allem schätzt er die Lernziele als auf dem Diskussionsniveau der siebziger Jahre stehengeblieben ein, damit den Anforderungen, die Texte der Gegenwartsliteratur an Leser stellen, nicht mehr gerecht werdend, wenn nicht sogar deren Problemstellung widersprechend (etwa Subjekt/Ich-Identität betreffend). Er stellt Forderungen, wie sich die Schule der Gegenwartsliteratur öffnen könnte, sowie konkrete Unterrichtsvorschläge zur Einbeziehung der Literatur der 70er, 80er und 90er Jahre zur Diskussion. Welch reduziertes Bild von Ernst Jandl in der Schule vermittelt wird, kritisiert Hermann Korte durch seine Analyse des späten Jandl, einem Autor, der „seit drei Jahrzehnten“ mit seiner konkreten Poesie, vor allem der sechziger Jahre, vertreten ist. Und mit Verweis auf die „epistemologische Situation der Gegenwart“, einer „nach-metaphysischen“, plädiert Jürgen Förster für die Vermittlung neuer Lesekompetenz: einer solchen für botschaftslose Gegenwartstexte (wie sie durchaus im Band analysiert wurden). Daß diese Seite der Literaturvermittlung, die schulische, im Band eine Rolle spielt, war noch hervorzuheben; entscheidet sich doch hier durchaus mit, ob Literatur noch gelesen wird...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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