Eine Rezension von Volker Strebel


Almanach und Wundertüte

„Tschechische Gegenwartsliteratur“ Sonderband der Literaturzeitschrift „Passauer Pegasus“

Herausgegeben von Edith Ecker, Karl Krieg und Bernhard Setzwein. Passau 1996, 322 S.

Bei der Frage, ob Europa zusammenwachsen wird, werden mit Blick auf den Westen Währungskriterien diskutiert. Werte und Traditionen fallen dabei kaum ins Gewicht. Kritische Betrachter fürchten dabei, daß die Kultur auf der Strecke bleibt. Dabei prägten gerade die über Jahrhunderte gewachsenen Normen und Wertekulturen das unverwechselbare europäische Antlitz. Ein, wie es im heutigen Technologendeutsch heißt, entscheidender Standortvorteil!

Die Besinnung auf unsere Wurzeln könnte unseren Blick auf die Nachbarn neu schärfen und den gemeinsamen Weg für die Zukunft frei machen. Die Literaturen stellen dabei einen wichtigen Ausdruck jeweiliger Befindlichkeiten dar. Eine europäische Tradition!

Unser östliches Nachbarland Tschechien kann sich, was seine Literatur betrifft, auf die Arbeiten seiner Autoren verlassen. Davon überzeugt der vorliegende Sonderband der Literaturzeitschrift „Passauer Pegasus“, wobei die Bezeichnung „Sonderband“ eine Untertreibung für ein ansehnliches Buch von 322 Seiten darstellt. Der Titel „Tschechische Gegenwartsliteratur“ ist passend gewählt, präsentiert der Band doch eine erstaunliche Bandbreite der tschechischen Literatur, von den „Großen“ der Moderne angefangen bis zur neuesten Gegenwartsliteratur. Der Bogen reicht von verstorbenen Dichtern wie Vladimír Holan, Jan Skácel und dem Nobelpreisträger Jaroslav Seifert bis hin zum Altmeister Ludvík Kundera, den Prosaautorinnen Daniela Hodrová und Zuzana Brabcová oder dem Dichter Michal Ajvaz, dessen Prosatext von Lenka Reinerová ins Deutsche übertragen wurde - jener Lenka Reinerová, die im vergangenen Jahr ihren achtzigsten Geburtstag feiern durfte. Für Kenner der tschechischen Literatur stellt jeder dieser Namen eine eigene spannungsreiche Geschichte dar, die das Leben in unserem Jahrhundert zu verantworten hat. Neben der souveränen Zusammenstellung wichtiger Autoren besteht das Verdienstvolle dieses Bandes darin, daß neben Textproben auch lehrreiche und gar nicht dozierende Versuche unternommen werden, das Dargebotene in Zusammenhänge einzureihen. Kurzkriterien der tschechischen Moderne ermöglichen auch Lesern ohne Vorkenntnisse ein gewinnträchtiges Kennenlernen der tschechischen Gegenwartsliteratur. Dabei äußern sich sowohl tschechische als auch deutsche Essayisten und Übersetzer. Die unterschiedliche Herkunft der Autoren unterstreicht geradezu paradigmenhaft die Notwendigkeit grenzüberschreitender Ergänzung, und sicher ist es kein Zufall, daß dieser Sonderband in Passau entstanden ist. Schon seit Jahren zeigen sich in den ostbayrischen Regionen eine Vielzahl von Unternehmungen, sich dem bisher unbekannten tschechischen Nachbarn zu nähern.

Der Sonderband „Tschechische Gegenwartsliteratur“ hält, was ein guter Almanach verspricht. Wie bei einer Wundertüte fällt einem beim wiederholten Schütteln etwas Neues in die Hände. Lyrik und Prosa, alles Erstveröffentlichungen und in zumeist vorzüglicher Übersetzung. Überhaupt fällt auf, daß eine nachwachsende Übersetzergeneration - Übersetzerinnen zumeist - kenntnisreich auf den Plan tritt.

Von Franz Peter Künzel, dem „Entdecker“ Bohumil Hrabals für das deutsche Lesepublikum, liegt ein ganz persönliches Porträt des kürzlich verstorbenen Mentors der modernen tschechischen Prosa vor. Als umfangreiche Draufgabe gibt es zusätzliche Teile des Hrabalschen Mädchenromans Hochzeiten im Hause, die in der deutschen Buchausgabe nicht enthalten sind. Umfangreiche Textproben von Lyrik und Prosa liegen auch von Jáchym Topol, dem Mitbegründer des literarischen Underground-Magazins „Revolver Revue“, vor. Der Leser kann sich somit selbst ein Urteil über Topols Arbeiten bilden und entscheiden, ob dessen vorauseilender Ruf als neuer Stern am böhmischen Literatenhimmel verdient ist. Zusätzliche Interpretationshilfe leistet hierzu Eva Profousovás Kommentar „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Bis auf den Lyriker Petr Pavel, dessen von Reiner Kunze übersetzte Gedichte erstmalig veröffentlicht werden, werden im Schlußteil übersichtliche Personen- und Werkbeschreibungen aufgeführt.

Die tschechische Literatur, über Jahrzehnte in die drei Bereiche „offizielle“ Literatur, Samisdatliteratur und Exilliteratur aufgeteilt, ist spätestens seit der „samtenen Revolution“ vom Herbst 1989 auf der Suche nach neuen, verbindlichen Kriterien. Der vorliegende Querschnitt des historischen Augenblicks offenbart eine enorme Vielfalt an Ausdrucksmitteln.

An Peter Bechers verständige Einleitung über die Rezeption tschechischer Literatur in Deutschland wird sich der Leser am Ende wieder erinnern: als Wegweiser für weitere wichtige Titel und Namen aus Böhmen.

Weit mehr jedoch muß noch geborgen werden!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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