Eine Rezension von Herbert Mayer


Den Blick auf unser Jahrhundert verändern?

Stéphane Courtois (Hrsg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus
Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Ein Kapitel zur Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR von Joachim Gauck und Ehrhart Neubert.

R. Piper, München 1998, 994 S.

„Dieses Buch wird den Blick auf das 20. Jahrhundert verändern“, so kündigte die Eigenwerbung an, es ziehe die „grausige Bilanz des Kommunismus“. Die französische Originalausgabe erschien pünktlich zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution. Verleger und Herausgeber verfolgten dabei offensichtlich mehr politische als wissenschaftliche Ziele. Die französische und andere kommunistische Parteien außerhalb der sowjetischen Einflußsphäre sollten als Kollaborateure und Mitläufer eines kommunistischen Staatsterrors angeprangert werden. Die PR-Strategie setzte auf die Zahl von 100 Millionen Toten und den entsetzten Leser, der durch das Massive und das Globale des Terrors in kommunistischen Staaten erschrickt. Zu den verkündeten Horrorvisionen gab es bald Einwände, daß die Zahlen unexakt und manipuliert waren und der angestellte Totalitarismusvergleich von Kommunismus und Faschismus vereinfacht. Für die deutsche Fassung war ein Team von sechs Übersetzern eingespannt, die offenbare Eile führte stellenweise zur ungenauen Übersetzung, die sich nicht um Fachbezeichnungen, Eigennamen und Begriffe kümmert (zum Beispiel heißt es statt Rotfrontkämpferbund einfach Rotfront). Von der Anlage her ein Sammelband, ist das voluminöse Werk in fünf Teile gegliedert, die von der Einleitung „Die Verbrechen des Kommunismus“ und dem Schlußwort „Warum“ von Stéphane Courtois zusammengehalten werden, die deutsche Ausgabe ist ergänzt um den Abschnitt „Aufarbeitung des Sozialismus in der DDR“.

Die insgesamt elf Autoren - sechs werden direkt als Autoren, weitere fünf lediglich als Mitarbeiter genannt - kommen aus dem Umfeld des französischen Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung CNRS (Centre national de la recherche scientifique), wo Courtois, ein ehemaliger Maoist der Gruppe Vive la Révolution, als Forschungsdirektor wirkt. Prägend für den Band ist es, die Geschichte des Kommunismus auf Terror zu reduzieren. Erstaunlich: Mehr als alle Beiträge des Bandes hat das Vorwort, in dessen Vordergrund Zahlen und ein Vergleich von Faschismus und Kommunismus stehen, die öffentliche Debatte geprägt. Der Vergleich - der wissenschaftlich durchaus legitim ist - erfolgt oberflächlich, unter gegenseitiger Aufrechnung von Zahlen, im Sinne des fragwürdigen Totalitarismusschemas und mündet in der Gleichsetzung: „Der Totalitarismus hat eine nationalsozialistische, aber auch eine leninistisch/stalinistische Variante.“ (S. 40) Courtois spricht von 100 Millionen Toten des Kommunismus, denen er die 25 Millionen Toten des Nationalsozialismus entgegenstellt. Mit dieser Aufrechnung will er beweisen, daß der Kommunismus (mindestens viermal?!) verbrecherischer als der Nationalsozialismus war. Seine Methode besteht darin, die Opfer des Faschismus nach unten zu rechnen (die internationale Faschismusforschung beziffert dessen Opfer auf etwa 50 Millionen). Das ist der rechtskonservativen deutschen Geschichtsschreibung willkommen und bietet Gelegenheit, den Historikerstreit Mitte der 80er Jahre faktisch neu aufzulegen. So kann nicht nur der Holocaust verharmlost werden, sondern es werden vor allem die Verbrechen von Deutschen relativiert. Die Opfer des Kommunismus werden bei Courtois durch die Einrechnung von Hingerichteten, Verhungerten und Toten verschiedener Kriege nach oben gerechnet: für China 65 Millionen, für die Sowjetunion 20 Millionen, für Kambodscha 2 Millionen, für Nordkorea 2 Millionen, für Afrika (Angola, Moçambique, Äthiopien) 1,7 Millionen, für Afghanistan 1,5 Millionen, für Vietnam 1 Million, für Osteuropa 1 Million, für Lateinamerika 150000, für die Komintern und nicht an der Macht befindliche kommunistische Parteien etwa 10000 (S. 16). Nach Courtois wurde der faschistische „Rassen-Genozid“ durch den kommunistischen „Klassen-Genozid“ ersetzt, was schon begrifflich Einwände hervorruft. „Über einzelne Verbrechen, punktuelle, situationsbedingte Massaker machten die kommunistischen Diktaturen zur Festigung ihrer Herrschaft das Massenverbrechen regelrecht zum Regierungssystem“, für das kommunistische System sei eine „verbrecherische Dimension“ charakteristisch. (S. 14 f.)

Einige Autoren haben sich von diesem Vorwort distanziert (Nicolas Werth, Jean-Louis Margolin sowie Karel Bartosek). Ihre Kritik wendet sich gegen die ahistorische und pauschalisierende Vorgehensweise, dagegen, daß Massenverbrechen ins Zentrum gerückt wurden, die Zahl der Opfer zu hoch beziffert wurde, eine Gleichsetzung der kommunistischen Doktrin und ihre praktische Anwendung erfolgte und daraus die große Ähnlichkeit (bis zur Gleichsetzung) von Kommunismus und Faschismus abgeleitet wurde. Nach ihrer Auffassung bestand die entscheidende wissenschaftliche Fragestellung des Buches darin, Ähnlichkeiten und Unterschiede in Systemen kommunistischer Machtausübung herauszuarbeiten, da sich die kommunistischen Herrschaftssysteme in Ländern unterschiedlicher Regionen, unter verschiedenen historischen Voraussetzungen und gesellschaftspolitischen Bedingungen bei unterschiedlich ökonomisch-kulturellem Niveau etablierten. Es gab vielfältige Unterschiede in der Herrschaft zwischen Stalin, Pol Pot, Castro oder Dubcek.

Stark kontrastiert - nicht nur zur Einleitung - der wissenschaftliche Wert der einzelnen Beiträge. Am ehesten bestehen können die Abschnitte über die Sowjetunion, China und Osteuropa. Im ersten Teil des Bandes behandelt Nicolas Werth die Sowjetunion bis zu Stalins Tod. Er hat dazu Archive, Dokumente, seriöse Literatur und Zeitzeugenbefragungen genutzt, ähnliches kann für viele der anderen Beiträge nicht gesagt werden. Werth bringt im wesentlichen zwar keine neuen Fakten, gibt aber einen guten Überblick zum Thema und belegt gegenüber früheren Darstellungen das Material exakter. Sein Ziel ist die Darstellung der „Abfolge der Gewaltzyklen“ in der Sowjetunion, (v. a. der Zeit 1917/22, 1927/32, 1936/38), die er mit 1953 enden läßt. Auch bei ihm fehlt oft, was in anderen Beiträgen viel drastischer deutlich wird, die historische Einordnung in Aktio und Reactio, in wechselseitige Ursache und Wirkung, in die konkreten Umstände. Dennoch bleibt Werth vorsichtiger in seinen Wertungen als manch anderer Autor.

Der zweite Teil, „Weltrevolution, Bürgerkrieg und Terror“ (verfaßt v. a. von Courtois und J.-L. Panné), behandelt Komintern, Spanischen Bürgerkrieg und „Terrorismus“. Die Autoren haben im wesentlichen Daten und Fakten verschiedener Bereiche aus den Zusammenhängen gerissen, so daß sie eine Kette von Unrecht, Terror und Verbrechen ergeben. Die Komintern erscheint als Organisation der Sowjetunion, mit der kommunistischer Terror im Ausland durchgesetzt wurde. Das Ergebnis des Beitrags ist um so enttäuschender, als im letzten Jahrzehnt doch einiges aus lange verschlossenen Teilen des Kominternarchivs zu holen war und einschlägige Publikationen vorliegen. Hinzu kommen Fehler auf Fehler (z. B. sei die Komintern 1919 in Konkurrenz zur Sozialistischen Arbeiterinternationale gegründet worden, diese entstand aber erst 1923). Unglaublich klingt und unwahr ist, daß die Weltkonferenz der kommunistischen Parteien im November 1957 in einer Abstimmung den Tod Nagys beschloß (S. 364/365).

Der dritte Teil beinhaltet unter der Überschrift „Das übrige Europa als Opfer des Kommunismus“ Beiträge zu Polen (A. Paczkowski) sowie zur Tschechoslowakei/Osteuropa (K. Bartosek). Mit Recht verweist Paczkowski darauf, „die Vergangenheit alleine unter dem Gesichtspunkt gewaltsamer Unterdrückung zu betrachten trägt das Riskio in sich, das kommunistische System verzerrt wahrzunehmen“ (S. 411). Generalisierend wird für die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten nach 1945 - vor allem bis 1956 - konstatiert: „Der Massenterror wurde alltäglich, indem er sich mehr und mehr ausbreitete“ (S. 416), jeder konnte Opfer der Sicherheitsorgane werden, Repressionsmaßnahmen konnten führende Persönlichkeiten der kommunistischen Partei oder des Staates treffen. Später habe die „selektive“ bzw. „begrenzte“ Repression sich weit von ihren stalinistischen Ursprüngen entfernt. Im Widerspruch zum Abschnitt über die DDR wird für Ostdeutschland eine „relative Milde“ der Repression konstatiert, allerdings ist die Begründung obskur, „die Ziele der neuen Machthaber waren schon durch das vorangegangene Regime der Nazis vorweggenommen worden“ (S. 446).

Die Teile IV und V sind betitelt „Kommunistische Regime in Asien: zwischen ,Umerziehung‘ und Massenmord“ (mit meist von Jean-Lous Margolin verfaßten Kapiteln zu China; zu Nordkorea, Vietnam und Laos sowie zu Kambodscha) und „Die Dritte Welt“ (mit drei Artikeln zu Lateinamerika, zu Formen des „Afrokommunismus“ und „Der Kommunismus in Afghanistan“). Margolin macht die Jahre 1959 bis 1961 in China zur „größten Hungersnot aller Zeiten“ und rechnet die Toten von 20 auf 43 Millionen hoch, für die Kulturrevolution werden 1 Million für wahrscheinlich gehalten. Für Vietnam sei es schwierig zu bewerten, „auf welcher Seite mehr Terror eingesetzt wurde“ (S. 636). Pol Pot wird nicht als ultralinke Entgleisung, sondern als „Teil der großen Familie“ des Kommunismus gewertet, er habe die kommunistische Utopie unter Umgehen von Übergangsphasen verwirklichen wollen. 1/4 der Bevölkerung wurde in 3 1/2 Jahren ermordet, der kommunistische Terror in Kambodscha übertreffe alle anderen Länder. Nicht uninteressant ist der Vergleich zwischen dem kommunistischen System in Asien und Europa. Als Besonderheit in Asien wird - mit Ausnahme Nordkoreas - hervorgehoben, daß die kommunistischen Regime aus eigener Kraft entstanden und zur Zeit noch an der Macht sind, daß sich eigenständige politische Systeme konstituierten, die sich in der Ideologie auf den Marxismus-Leninismus und die nationale Vergangenheit bezogen, wobei in diesen „Ideokratien“ neben der Ideologie der Voluntarismus alles beherrschende Bedeutung erlangte.

Die französische Zeitung „Le Monde diplomatique“ hat nach dem Erscheinen der Originalausgabe für Lateinamerika nachgerechnet, daß das Schwarzbuch die Toten des von den Contras und den USA verantworteten Krieges in Nikaragua ausschließlich auf das Konto der Sandinisten bucht. Für Afghanistan wird widersprüchlich behauptet, daß die Hälfte der Bevölkerung durch den Terror „der Roten Armee und ihrer afghanischen Ersatztruppen“ ins Exil gehen mußte, an anderer Stelle ist dann von 5 Millionen Flüchtlingen von 16 Millionen Einwohnern die Rede.

Die Abschnitte zur DDR sind verfaßt von Joachim Gauck - dem Sonderbeauftragten für die Unterlagen der DDR-Staatssicherheit - und von Erhard Neubert, einem seiner Mitarbeiter. Für Neubert war die DDR zwar ein kleines Land, „trotzdem gab es nahezu alle politisch motivierten Massenverbrechen“ des Kommunismus. Er behauptet unbewiesen, „die kommunistische Herrschaft 1917 bis 1991, in Ostdeutschland von 1945 bis 1989, war aus einem Guß“ (S. 834). In Wertungen wie das „zynische Mordverlangen ist die Vernunft des Kommunismus“ (S. 834) folgt Neubert völlig der Leitlinie von Courtois. Die DDR-Geschichte erschöpft sich bei ihm in „Auschwitz, Gulag und deren kleinen Varianten“, die DDR sei die schrecklichere „der beiden deutschen Diktaturen“, sie hinterlasse keine Leichenberge, sondern Aktenberge (S. 836, 883). Gauck unterscheidet sich mit seinem Beitrag von den übrigen dadurch, daß er weitgehend Betrachtungen und Reflexionen zu seiner eigenen Biographie in der DDR anstellt. Er weist zumindest auf Probleme des Vergleichs von Faschismus und Kommunismus hin, da die „Unterschiedlichkeit der Ideologien“ (S. 891) auffalle und es größere Unterschiede als Gemeinsamkeiten gebe, um dann beide als totalitär gleichzusetzen.

Der Anhang bringt neben Personenregister Anmerkungen und eine Auswahl an Literatur. Die Qualität ist in der Regel dürftig, z. B. ist der Teil 3 mit ganzen 43 Anmerkungen belegt, zu Teil 1 und 2 fehlt die Auswahlbibliographie völlig. Trotz allem Kritikwürdigen: Einige Fragestellungen und Darlegungen des Schwarzbuchs fordern durchaus zum ernsthaften Überlegen heraus. Das Nachdenken über kommunistische Gewalt und Terror ist unumgänglich. Genügend Fragen wirft der Band (erneut) auf, Fragen, auf die die Wissenschaft (und der Band) keine überzeugende Antwort haben: Warum und wie konnte es im Namen des Kommunismus und angesichts kommunistischer Ideale zu Terror, Verbrechen und blutiger Unterdrückung, zu Arbeitslagern und Deportationen kommen? Bot Lenin die Basis für all die mit Opfern verbundenen Entwicklungen, die in der Sowjetunion in Stalins Terror kulminierten? Worin liegen Ursachen, Erscheinungsformen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der kommunistischen Herrschaftsmethoden? Nicht so einfach, wie manche Kritiker meinen, dürfte es sein, die im Band angeführten Zahlen, Ereignisse und Daten zu entkräften, da es bei ihrer Mischung von Un-, Halb- und Wahrheit oft schwierig ist zu bewerten, was den Tatsachen entspricht und richtig dargelegt ist.

Nicht folgen kann man Courtois’ Umschreibung der Geschichte, angefangen damit, daß die französischen Jakobiner der Ursprung der kommunistischen Schreckensherrschaft und die „Erfinder“ des modernen Kommunismus wären (S. 21, 796). Dieser Band soll damit nicht nur den Kommunismus, sondern die gesamte linke Bewegung verurteilen und die Rechten rechtfertigen. Logisch ist, daß - so durch die Leiterin der Zeitschrift „Archives Juives“ und Spezialistin für die Shoah, Annete Wieviorka - die Frage gestellt wird, was ein Schwarzbuch des Kapitalismus bringen würde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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