Eine Rezension von Volker Strebel


Menschliches Format mit Kinderherz

Marek Zybura (Hrsg.): „Mit dem Wort am Leben hängen ...“

Reiner Kunze zum 65. Geburtstag.

Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1998, 176 S.

Unauffällig wie das öffentliche Leben des Reiner Kunze selbst - und möglicherweise für ihn ebenso wie für seine Leser überraschend - kam am 16. August 1998 die Nachricht in manchen Feuilletons, daß der Autor des Buches Die wunderbaren Jahre bereits seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiert. Womöglich scheint vielen Reiner Kunze deswegen in so junger Erinnerung, weil er Kinderbücher wie Der Löwe Leopold geschrieben hat, in denen „ein Kinderherz schlägt“. Und das ist etwas, was der große mährische Dichter Frantisek Halas als etwas Erstrebenswertes ansah: „Ein Kinderherz haben, das ist es, ein Kinderherz.“ Jan Skácel zitierte diesen Ausspruch gerne, und Reiner Kunze verdankt die deutsche Leserschaft die Bekanntschaft mit beidem. Ohne die jahrzehntelange Beschäftigung mit der tschechischen Poesie und vor allem der Dichtkunst des Jan Skácel lägen in deutscher Sprache weder die kongenialen Übersetzungen des Reiner Kunze vor, noch wäre seine Poesie die, die sie ist.

Im vorliegenden Geburtstagsfestband wird in einigen Beiträgen dieser Zusammenhang angedeutet. Dennoch wünschte man sich einen noch weiteren Überblick. Daß Kunze der erste war, der Milan Kundera, den späteren europäischen Bestsellerautor, ins Deutsche übersetzt hat, geht leider nirgends hervor. Ebenso vermißt man eine, wenigstens tabellarische Auflistung Kunzescher Übersetzungsleistung. Allein die Anzahl der von Kunze übersetzten tschechischen Autoren überrascht und verblüfft. Reiner Kunze hat Bücher von fast 50 Schriftstellern ins Deutsche übertragen.

Exemplarisch nehmen sich die Autoren Walter Schmitz und Ludger Udolph das große Gedicht von Jan Skácel „Der blaue Vogel“ in der Übersetzung Reiner Kunzes vor, um mögliche unterirdische Verbindungen beider Dichter aufzuspüren. Das Ergebnis ist frappierend, zumal die vergangenen Jahrzehnte von Mauer und Stacheldraht geprägt waren. Kunze hatte den Weg zu den Nachbarn gefunden und wurde dafür reichhaltig beschenkt. „Der Dialog selbst ist das Leben der Wahrheit“ - dieses dem Band vorangestellte Motto des Theologen und Kunze-Freundes Max Seckler wird, wie gezeigt werden konnte, im poetischen Werk des Reiner Kunze verdichtet. Aus polnischer Sicht berichtet Elzbieta Dzikowska in ihrem Beitrag ähnliches über Reiner Kunzes polnische Gedichte: „Mit der Toleranz und dem Respekt gegenüber dem Leser, der in seinen Möglichkeiten durch keine ,Logik der überdeutlichen Verhältnisse‘ gestört oder eingeschränkt wird, korrespondieren die gleiche Toleranz und der gleiche Respekt in der Darstellung des Polnischen, das nicht in die Perspektive einer kulturellen Fremde gestellt, sondern in seinem menschlichen Format gezeigt wird, als dasselbe, das ein anderes ist.“ Aus wieder anderer Sicht bestätigt dies Matthias Buth in seinen eindrucksvollen Notizen anläßlich einer gemeinsamen Lesereise mit Reiner Kunze durch Schlesien. Vor dem Hintergrund unseres Jahrhunderts mit seinen Exzessen des Schreckens zieht Matthias Buth den schlesisch-deutschen Dichter Andreas Gryphius zu Rate und belegt in dessen Gedichten unerwartet aktuelle „Verständigungsmittel“.

Karl Schuhmanns Beitrag untersucht „Die Tonkunst im Werk Reiner Kunzes“. Er bescheinigt einen gründlichen Unterschied „von vielen Äußerungen über die ,holde Kunst‘, wie Dichter und Literaten sie zum Entzücken ihrer Leserschaft und zum Grinsen der Musikkundigen von sich geben“. Bereits im Nachwort von „Widmungen“ (1964) hat Lubos Prihoda auf Kunzes Musikkenntnisse auch in bezug auf sein dichterisches Schaffen hingewiesen.

Kunzes Lyrik und Prosa wird im vorliegenden Band in Beiträgen von Otto Knörrich, Eva und Uwe-K. Ketelsen oder auch Manfred Durzak aus verschiedenen Blickrichtungen untersucht.

Schriftstellerkollegen und Freunde wie Marian Nakitsch, Günter Kunert, Reiner Malkowski oder Tadeusz Rózewicz liefern aufschlußreiche „Poetische Sendbriefe“, äußern sich zum „Amt des Poeten“. Erschütternd sind die Zeilen von Michael Hamburger aus finsteren Zeiten, als der Noch-DDR-Bürger Kunze in London physisch zusammengebrochen war.

Auch Uwe Grünings und Uwe Kolbes Berichte aus DDR-Zeiten geben neue Einblicke in diese spannungsreichen Jahre. Der unermüdliche Einzelkämpfer Andreas W. Mytze steuert aus London seinen „Versuch einer Erinnerung“ bei. Die Stasi hatte seinerzeit Kunze nahegelegt, sich von Mytzes Zeitschrift „europäische ideen“ zu distanzieren...

Die TABULA GRATULATORIA kann sich sehen lassen. Sie belegt das europäische Format des Dichters Reiner Kunze. Daß unter seinen Freunden und Gratulanten Namen aus mittel- und osteuropäischen Ländern, Tschechien allemal und vor allem Polen, in so häufiger Anzahl zu finden sind, zeigt, daß Kunze schon lange pflegt, was jetzt für ein vereintes Europa in Frieden und Freiheit erst werden soll: der Blick über die Grenzen. Denn die Grenzen sind es, wie Kunze einmal sagte, die uns verbinden: „Indem wir diese Grenze respektieren, respektieren wir des anderen Freiheit, und in diesem Respekt hebt sich das Trennende der Grenze auf.“ Und dann beginnt der „Internationalismus der Dichter“, der vom Austausch der Poesie lebt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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