Eine Rezension von Ursula Rangeus


Provokative Denkanstöße

Esther Vilar: Denkverbote

Tabus an der Jahrtausendwende.

G. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1998, 255 S.

Die bekannte Essayistin, die als Kind deutscher Emigranten in Argentinien aufwuchs und seit über zwanzig Jahren in der Bundesrepublik lebt, hat sich durch viele Streitschriften, Essays, Romane und Bühnenstücke einen Namen als schonungslose Kritikerin des in den Industrieländern herrschenden Zeitgeistes gemacht. Ausgangspunkt für die Methode ihrer provokativen Attacken ist die Denkfigur des von ideologischen, religiösen und moralischen Bindungen enttäuschten Intellektuellen, dessen Desillusionierung sie als Chance zur Unabhängigkeit begreift. Instrument ihrer Orientierungsversuche ist vorurteilsfreies, unabhängiges Denken, womit sie sich an den mündigen, durch Sensibilität und scharfe Beobachtungsgabe ausgezeichneten Leser wendet. Die Perspektive ihrer Betrachtungen und Beobachtungen, die unterschiedliches analytisches Gewicht besitzen, ist die eigene authentische Wahrnehmung und das soziale Gewissen gegenüber den Menschen und ihrer bedrohten Heimstatt, der Erde. Als unabhängige und selbstkritische Beobachterin des Zeitgeistes steht sie quer zu herrschenden Strömungen, scheut sich nicht, durch provokative Thesen und Standortbestimmungen Sympathisanten zu schrecken. Von solcher Position aus präsentiert sie sich als Aufklärerin, weist in vielerlei Hinsicht dem Einsichtigen die eigenen Absurditäten und Wahrnehmungslücken vor. Sie zeigt, daß Aufklären mit der schonungslosen Selbstanalyse zu tun hat, mit der Bereitschaft, die eigene Unmündigkeit als selbstverschuldet zu begreifen und durch Denkanstöße aufzuheben. Obwohl ihr Zielpunkt das mündige Subjekt ist, bleiben die konditionierenden Verhältnisse stets in ihrem Blickfeld. Die hier vorliegende Publikation besitzt den Charakter einer Bilanz ihrer Denkansätze und der Themen, die sie seit 1971 mit Publikationen, wie Der dressierte Mann, Die Lust an der Unfreiheit (1971), Die Fünf-Stunden-Gesellschaft (1978), Manifest gegen die Herrschaft der Jungen (1980), Die Fünfundzwanzig-Stunden-Woche. Arbeit und Freizeit in einem Europa der Zukunft (1990), Katholikinnen aller Länder, vereinigt euch (1995) aufgegriffen hat. Sie bilanziert und führt brauchbare Thesen weiter, korrigiert, wo sie zu neuen Einsichten kommt. Als Tabus an der Jahrtausendwende, die die Menschheit auch ins nächste Jahrtausend begleiten werden, präsentiert sie „Unverrückbare Denkverbote“, „Weichende Denkverbote“ und „Entstehende Denkverbote“. Zu den unverrückbaren Tabus zählt sie die Tatsache, daß sich viele unserer Handlungen aus der Unfähigkeit ergeben, mit der Endlichkeit individuellen Daseins vernünftig umzugehen. Mag man ihr hierin folgen, so dreht sie sich mit ihren Attacken auf die Frommen (bei Einbeziehung aller Weltreligionen merkt man doch, daß ihre Areligiosität katholischer Prägung ist), mit der strikten Unterscheidung zwischen Intelligenten und Beschränkten, die stets zur Herrschaft drängen, doch innerhalb des Widerspruchs, daß sie die zur Einsicht bringen will, denen ihre Schimpfe gilt. Die Bindungssehnsucht des Menschen ist ihm so leicht nicht auszutreiben, da er in seinem Innersten ein soziales Wesen bleibt und Unabhängigkeit immer nur zu bestimmten Konditionen zu haben ist. In „Weichende Denkverbote“ skizziert sie konkrete Veränderungen, die durch die Frauenbewegung, durch die Veränderung der Arbeitsgesellschaft, durch die zunehmende Auflösung von Ehe und die durch die Pille ermöglichte sexuelle Freizügigkeit eingetreten sind. Hier kommt sie zu aufschlußreichen Beobachtungen, die nahelegen, daß in der Tat „Großmutters Frauenbewegung bankrott ist“ (S. 102). Unter Feministinnen wird sie sich mit der schonungslosen Darlegung weiblicher Vermeidungs- und Unterwerfungsstrategien gegenüber den Männern, die auf eigener Unmündigkeit beruhen, sicherlich keine Freundinnen machen. In solchen Beobachtungen ist sie erfrischend wahr. Auch ihre Überlegungen zur Arbeit und einem entsprechenden Ethos in der Zukunft enthalten viele Anregungen und Anstöße zum gesellschaftlichen Umgang mit einem unabdingbaren Problem der zukünftigen Industriegesellschaft. Sie kreiert eine Veränderung des bisherigen Arbeitsethos und plädiert für eine Neuverteilung der immer mehr durch Automaten erledigten, also weniger werdenden Arbeit. Zugleich weist sie darauf hin, daß alle bisherigen Strategien, mit der Arbeitslosigkeit umzugehen, obsolet sind. In ihren Überlegungen zu „Die Sünde Kind“ nutzt sie den Zynismus als rhetorisches Mittel, um auf die Geburtenproblematik in den Industrieländern angesichts einer Weltüberbevölkerung hinzuweisen. Man liest solches mit gemischten Gefühlen und kann doch nicht umhin, ihr recht zu geben. „Entstehende Denkverbote“ macht sie offensichtlich im Blick auf die Massenmedien aus, so, wenn sie die Schönheit und vor allem die Umgangsweise mit ihr in den entsprechenden Blättern als reaktionär und asozial klassifiziert oder wenn sie die Skandalberichterstattung über die erlauchten Häuser Europas zur Voraussetzung für die Weiterexistenz der Monarchie ausmacht. Manche Attacke gilt dem Hang zu Sekten und zu Obskurantismus oder auch dem zunehmenden Glauben an Seelenwanderung. In ihren Auslassungen zur Enttabuisierung der Sexualität wird deutlich, daß es ihr nicht in jedem Fall um eine generelle Abschaffung von Tabus geht, denn sie scheut sich nicht, die scheußlichen Aussichten einer solchen endgültigen Enttabuisierung mit Flammenschrift an die Wand zu malen. Erst wenn die Methoden künstlicher Befruchtung zur Normalität geworden sind und Sex als „Lizenz zum Menschenmachen“ außer Kraft gesetzt ist, gibt es keine Tabus mehr. Doch wehe uns, scheint sie sagen zu wollen. Erfrischend ist auch ihr vorurteilsloser Umgang mit dem Minderheitsrecht in bezug auf die Homosexuellen, das nunmehr das Gewicht eines neuen gesellschaftlichen Tabus bekommt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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