Eine Rezension von Cristina Tudoricá


Exitus letalis oder vom Abenteuer des Untergangs bei den Siebenbürger Sachsen

Eginald Schlattner: Der geköpfte Hahn

Roman.

Zsolnay Verlag, München 1998, 514 S.

„Exitus, was heißt das eigentlich?“ So lautet der erste Satz des Romans. Die Fülle an Ereignissen, Schilderungen und Menschentypen liefert eine umfassende Antwort auf diese Frage, so daß der Schluß als erwartetes und unvermeidliches Fazit wirkt: „Exitus letalis“.

Der Hahn, mit seinem feuerroten Kamm ein Symbol von Sonne und Licht und durch den morgendlichen Schrei Verkünder eines neuen Anfangs, ist geköpft. Das Bild des geopferten Tieres, das - von seinem Haupt getrennt - noch in gierigen, vollen Zügen die letzten Lebenstropfen auskostet, durchzieht leitmotivisch den Erzählfluß und verkündet immer wieder die unmißverständliche Botschaft: Der Untergang naht, er kommt und ist unausweichlich. Doch von welchem Untergang oder Ende ist hier eigentlich die Rede?

Am 23. August 1944 sitzt ein sechzehnjähriger Junge auf der Terrasse seines Elternhauses im siebenbürgischen Fogarasch und erwartet seine Gäste. Dieser Tag, an dem das Abschiedsfest einer Klasse stattfinden soll, bedeutet auch das Ende einer Lebensetappe: der Kindheit. Der 23. August 1944 verkündet aber gleichzeitig auch ein zweites Ende, das - anders als das erste - von keinem Neuanfang begleitet wird. Exitus letalis eben ... An diesem Tag hat das bis dahin mit Deutschland verbündete Rumänien die Fronten gewechselt und sich den Alliierten angeschlossen. Dieser Schritt leitete den Untergang der deutschen Bevölkerungsgruppen in Rumänien ein und stellte das Ende eines Prozesses der Einengung und des Autonomieverlustes dar, der bereits in der Zeit Josephs II. angefangen hatte und sich über die nachfolgenden zweihundert Jahre langsam und schrittweise vollzog.

Sehr häufig findet man am Anfang eines Kapitels den erzählenden Jungen auf der Terrasse sitzen. Von hier aus blickt er in die Ferne des Gartens, aus dem seine Gäste kommen und die Freitreppe hinaufsteigen werden. Die Terrasse wirkt szenisch als Mittelpunkt der Ereignisse, als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, denn der Erzähler greift sich Menschen und Erlebnisse aus dem Gedächtnis heraus, reiht sie aneinander und läßt sie wie auf einer Bühne vor den Augen des Zuschauers auftreten. Auf diese Weise entsteht - aus der Zusammensetzung bunter, strahlender und auch dunkler Mosaiksteine - das letzte Bild einer vom Untergang bedrohten Welt: Hier wird der letzte tragikomische Akt in der Geschichte einer Minderheit gespielt, deren Anfänge 800 Jahre zurückreichen.

Der Lebensweg des Jungen, der sich langsam aus einem Kind in einen Erwachsenen verwandelt, ist eng verflochten mit der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft der Zwischenkriegszeit. Der Roman gestaltet sich als gelungene Verknüpfung dieser beiden Ebenen, die einander ergänzen und das Gleichgewicht halten, um sich zu einem harmonischen Erzählfluß zu verbinden: Um den Jungen herum entsteht ein filigranes Geflecht aus Menschen, Ereignissen und Beziehungen.

Man fühlt sich oft an Huckleberry Finn und an seine Reise entlang des Mississippi erinnert, die auch eine Lebensreise war. Ähnlich gestaltet sich das Erwachsenwerden des jungen Erzählers in Siebenbürgen: Er erlebt Gut und Böse und lernt diese Kategorien voneinander zu unterscheiden, er entdeckt die Freuden und Enttäuschungen von Freundschaft und Liebe und fragt nach dem Sinn von Leben und Tod. Der Umgang mit jüdischen Kollegen ist eine Herausforderung, der er nicht immer gewachsen ist, aber an der er letzten Endes wächst. Die Perspektive der Betrachtung bleibt ständig die des Kindes. Trotzdem drängt sich der Erzähler nicht in den Vordergrund. Deshalb gelingt es, in dem Roman einen lebendigen Eindruck von jener untergegangenen Vielvölkerwelt zu vermitteln, die sich aus dem selbstverständlichen Mit- und Nebeneinander von Rumänen, Deutschen, Ungarn und Zigeunern zusammensetzte. Jeder konnte seine Identität wahren, und die gegenseitige Toleranz erlaubte das Zusammenleben verschiedener Kulturen, Stände und Generationen trotz bestehender Unterschiede und Gegensätze. Diesem vielfältigen Reichtum sollten leider der Krieg und seine unmittelbaren Folgen ein Ende setzen.

Am Schluß des Romans findet tatsächlich die erwartete und vorbereitete Feier statt. Die Vergangenheit löst sich in Gegenwart auf. Und nicht nur das: Antisemitisch geprägte Antipathien und Vorurteile, die sich wie ein unheilvoller Schatten durch die Handlung gezogen hatten, lösen sich mit einem Mal auch auf. An ihre Stelle tritt eine Atmosphäre der Versöhnung und des Verständnisses, „als geometrischer Ort menschlicher Gemeinsamkeiten“. Dem immanen ten, vom Krieg herbeigeführten Untergang wird damit die Möglichkeit und Alternative eines harmonischen Zusammenlebens entgegengestellt.

Was am Ende des Buches wie ein Zauber wirkt ist nur Ausdruck einer mythischen Dimension, die der gesamten Handlung anhaftet. Man fühlt sich hier und da an Gösta Berling erinnert. Wundertätige Menschen treten auf, und es ereignen sich phantastische, irreale Begebenheiten. Es gibt sogar einen Propheten, der - ähnlich wie im Mittelalter der Hofnarr - ungestraft die Wahrheit aussprechen darf.

Märchenhaft, reich und ausdrucksvoll ist auch die Sprache selbst, die sich wie ein leichter Hauch vergangener Zeiten von den Seiten des Buches loslöst und den Leser mit ihrem Zauber einfängt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 1/99 (c) Edition Luisenstadt, 1999
www.luise-berlin.de

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